Startseite > Chefökonom, Economics im Netz, Lehrmeister, MarktWirtschaft > Moritz Schularick: Der entzauberte Staat

Moritz Schularick: Der entzauberte Staat

23. Februar 2023

Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss

Take-aways
 
• In der Coronapandemie hat der deutsche Staat planlos und zögerlich agiert und damit zur allgemeinen
Politikverdrossenheit beigetragen.
• Im Herbst 2020 offenbarten sich die Schwächen des deutschen Staates: starre Bürokratie, mangelhafte
Infrastruktur, Investitionsmüdigkeit.
• Es war falsch, so zu tun, als stünden wirtschaftliche und gesundheitliche Interessen im Gegensatz.
• In Deutschland verzettelte sich die Politik, weil sie die Wissenschaft nicht systematisch in Entscheidungen einbezog.
• Die Regierung verschleppte die Produktion des Impfstoffs, weil sie zu wenig risikobereit war.
• Auch in der Finanzkrise handelten Deutschland und die EU zu zögerlich.
• Deutschland muss ein handlungsfähiger, starker Staat werden, eingebettet in die europäische Solidargemeinschaft.

Rezension

Während der Pandemie fehlte es in Deutschland an politischem Mut, so der Tenor des Buches. Solche Kritik ist nicht nur berechtigt, sondern auch angebracht, vor allem im Vorfeld brisanter künftiger Aufgaben wie der ökologischen Transformation. Da ist es verzeihlich, wenn mancher Vergleich etwas hinkt: Eine deutsche Regierung hat etwa keineswegs die gleichen Handlungsoptionen wie der US-Präsident mit seinen umfangreichen Befugnissen. Alles in allem aber ein sehr lesenswertes Buch, das dazu anregt, die politischen und wirtschaftlichen Strukturen und Prozesse zu hinterfragen.


Zusammenfassung

In der Coronapandemie hat der deutsche Staat planlos und zögerlich agiert und
damit zur allgemeinen Politikverdrossenheit beigetragen.

Lange Zeit haben die Menschen in Deutschland „Vater Staat“ vertraut – als kompetenter und zuverlässiger Instanz. Die Coronapandemie hat jedoch gezeigt, dass es dem deutschen Staat an Mut und Stärke fehlt. Er ist nicht gerüstet für die Herausforderungen der heutigen Risikogesellschaft. Kein Wunder also, wenn das
Vertrauen der Bürger schwindet. Mit Max Weber kann man von einer „Entzauberung“ des Staates sprechen. Die chaotische deutsche Pandemiepolitik hat viele Menschen resignieren lassen. Die Bundes- und Landesregierungen haben viel diskutiert und abgewogen, aber zu zögerlich gehandelt. Beispielsweise wurde in Deutschland noch verhalten geimpft, als in Ländern wie Israel oder Großbritannien die Bevölkerung schon in weiten Teilen durchgeimpft war. Viele Regelungen waren viel zu kompliziert, wie die Öffnungsregeln für die Ostertage 2021.

„Vater Staat braucht ein Upgrade. Er braucht bessere Daten und eine bessere Vernetzung mit der Wissenschaft. Er braucht auch ein anderes Mindset: mehr Dynamik, den Willen zum Handeln und das Selbstvertrauen zu erkennen, dass manchmal auch unkonventionelle Lösungen zum Erfolg führen können.“

Zugleich hat die Pandemie aber auch deutlich gemacht, dass staatliches Handeln in einer Krise wichtig ist. Der Staat muss Strategien entwickeln, um die Krise zu bewältigen, und muss das Verhalten der verschiedenen Akteure koordinieren. Es reicht nicht, nur auf die Eigenverantwortung der Bürger zu setzen. Das zeigt unter anderem das Beispiel der Maskenverweigerer und Querdenker, die nicht nur sich, sondern auch
andere gefährden. Für die Zukunft bedeutet das: Der Staat muss Stärke zeigen, Expertise nutzen und Risiken eingehen. Wissenschaft und Politik müssen stärker zusammenarbeiten. Nur so kann die Gesellschaft drängende Zukunftsaufgaben bewältigen: Digitalisierung, den ökologischen Wandel sowie eine starke deutsche
und europäische Position zwischen den Wirtschaftsmächten USA und China.

Im Herbst 2020 offenbarten sich die Schwächen des deutschen Staates: starre
Bürokratie, mangelhafte Infrastruktur, Investitionsmüdigkeit.

Bis zum Sommer 2020 war die medizinische Versorgung in Deutschland gut, die Sterblichkeit gering. Die Bürger wurden finanziell unterstützt, Kurzarbeit schonte den Arbeitsmarkt, die Schuldenbremse war ausgesetzt. Doch schon im Herbst wendete sich das Blatt. Vieles funktionierte nicht – ob Anmeldeportale, Impfhotlines oder Tests. Die Bürokratie bremste, es fehlte an technischer Ausstattung, Software und Dateninfrastruktur. Die Corona-Warn-App zeigte kaum Wirkung, weil sie so hohen Datenschutzansprüchen genügen musste. Die Gesundheitsämter waren mit ihrer Kontrollaufgabe überfordert. Bereits vor der Pandemie hatte es geheißen, in deutschen Verwaltungen habe sich seit 50 Jahren nichts verändert – bei steigenden Anforderungen. Methoden aus Zeiten der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920 kamen zum Einsatz: Hygiene und Abstand, Lockdowns, Besuchsbeschränkungen, Ausgangssperren.

Eine Ursache der Misere war die Schuldenbremse, die nach der Finanzkrise im Grundgesetz verankert worden war. Sie führte womöglich dazu, dass der Staat zu wenige längerfristige Investitionen tätigte – etwa in eine Digitalisierung der Schulen oder in den Klimaschutz. Schulden um jeden Preis zu vermeiden, kann also auch negative Effekte haben. Klar ist: Deutschland muss modernisiert werden und dazu sind öffentliche Investitionen in großem Umfang nötig.

Es war falsch, so zu tun, als stünden wirtschaftliche und gesundheitliche Interessen im Gegensatz.

Die Entscheidung, im März 2020 einen Lockdown zu verhängen, war richtig. Die deutsche Politik folgte damit den Empfehlungen der Wissenschaft. In der Folge gelang es jedoch nicht, politische Entscheidungen systematisch an wissenschaftliche Erkenntnisse zu binden und daraus eine schlüssige Strategie und einheitliche
Regelungen zu entwickeln. In anderen Ländern, etwa Australien oder China, funktionierte die Strategie der niedrigen Inzidenz. Ihnen gelang es, mit einem harten Lockdown die Infektionszahlen zunächst zu verringern und sie nach der Aufhebung des Lockdowns unter Kontrolle zu halten. In Deutschland hingegen fürchteten Politiker wirtschaftliche Einbußen durch einen schärferen Lockdown. Dabei übersahen sie, dass das Virus für die verhaltene Wirtschaftstätigkeit ausschlaggebend war, nicht der Lockdown: Die Menschen wären aus Angst vor Ansteckung ohnehin nicht in Gaststätten und zu Veranstaltungen gegangen – nicht aber, weil es verboten oder nicht mehr möglich war. Außerdem hätte sich die Wirtschaft nach einem konsequenten
Lockdown schneller wieder erholt, weil das Infektionsgeschehen gar nicht so stark hätte um sich greifen können. Letztlich war es falsch, Gesundheitsschutz und wirtschaftliches Wohlergehen als Gegensätze zu betrachten.

„Der vermeintliche Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Gesundheit war ein Mythos, der uns viel Zeit, Geld und Menschenleben gekostet hat.“

Für die Wirtschaft waren die Schließungen ein willkommener Anlass, den Staat für mangelnde Umsätze verantwortlich zu machen und Entschädigungen einzufordern. Richtig war es, kleine Betriebe wie Kneipen oder Plattenläden zu schützen. Anteilseigner von GmbHs oder AGs zu unterstützen, war hingegen unangebracht.
Denn die zusätzlichen Renditen, die Eigentümer bei guter Wirtschaftslage erhalten, sind auch als Ausgleich für schlechtere Zeiten gedacht.

In Deutschland verzettelte sich die Politik, weil sie die Wissenschaft nicht
systematisch in Entscheidungen einbezog.

Weil Bund und Länder keine Strategie zur Bekämpfung der Pandemie hatten, liefen die staatlichen Maßnahmen immer mehr aus dem Ruder. Kaum jemand wusste mehr genau, wie viele Kontakte denn nun erlaubt waren oder welche Geschäfte öffnen durften. Für Impfstoffe gab es keine Notzulassung. Nicht erörtert wurde die Frage, ob man lieber zunächst eine möglichst große Zahl Menschen erstimpfen oder aber versuchen sollte, bestimmte Bevölkerungsgruppen mit Erst- und Zweitimpfung gezielt zu schützen. Heute wissen wir: Bereits die erste Impfung hätte gut geschützt vor schweren Verläufen und die Inzidenz wäre gesunken.
In Großbritannien wurden früh so viele Erstimpfungen wie möglich vorgenommen, auf Empfehlung des Joint Committee on Vaccination and Immunization (JVCI), dem Pendant zur Ständigen Impfkommission in Deutschland. Die Ansteckungsraten sanken stark. In Deutschland gab es keine vergleichbare Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Staat. Weder das Robert-Koch-Institut noch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina waren an politischen Entscheidungen beteiligt. Sie lieferten lediglich Expertise – genauso wie das Expertengremium, das Politiker im Vorfeld der Corona-Kabinettsitzungen informierte.

„Deutschland hatte kein Gremium, das Wissenschaft und Politik institutionell vernetzt
und wissenschaftliche Expertise systematisch in den politischen Entscheidungsprozess
eingebunden hätte.“

In Großbritannien hingegen vernetzt in Krisensituationen ein Krisenstab, das Civil Contingencies Committee, verschiedene Regierungsinstitutionen und die Wissenschaft. Im Katastrophenfall wird zusätzlich die Scientific Advisory Group on Emergency tätig. Sie bündelt wissenschaftliche Erkenntnisse und sorgt dafür, dass sie in den politischen Entscheidungsprozess Eingang finden. Anders als Deutschland erhob Großbritannien
überdies rasch systematisch Daten zum Infektionsgeschehen. In Zusammenarbeit mit der Universität Oxford führte das Office for National Statistics schon früh eine entsprechende Studie durch.

Die Regierung verschleppte die Produktion des Impfstoffs, weil sie zu wenig
risikobereit war.

Der deutschen Regierung fiel es während der Pandemie schwer, vertraute Regeln den neuen Gegebenheiten anzupassen. Man war nicht bereit, Risiken einzugehen, um schnell reagieren, improvisieren und Neues ausprobieren zu können. Das rächte sich beispielsweise beim Thema Impfstoffbeschaffung. Ein halbes Jahr nach Ausbruch der Pandemie gab es Aussicht auf ein Vakzin. Das US-amerikanische Impfstoffprogramm
lief auf vollen Touren. In Großbritannien gab es die Vaccine Task Force schon seit Monaten. In Deutschland harrte man der Dinge.

„Deutschland tat sich in der Pandemie schwer damit, seinen selbstgesetzten Regeln zu
entkommen, auch wenn diese einem effektiven Krisenmanagement im Weg standen.“

In Berlin hätte man schon im Sommer 2020 die Produktionsstätten planen, die Rohstoffe und Vorprodukte ausfindig machen können. Doch die Furcht vor einer Fehlplanung und unnötigen Kosten war zu groß. Dass Brüssel den Impfstoff bestellte, war richtig. Es sollte keinen Wettlauf einzelner Länder um den Impfstoff geben. Aber auch die EU versteifte sich auf Kosten und Haftungsrisiken und vernachlässigte den gesellschaftlichen Gewinn.

Mit ihrer Regelorientierung hatte die deutsche Wirtschaftspolitik jahrelang Erfolg. Sie sorgte für Stabilität und langfristige Ordnung. In Krisen ist es jedoch wichtig, schnell und unkonventionell zu handeln. Damit war Deutschland überfordert.

Auch in der Finanzkrise handelten Deutschland und die EU zu zögerlich.

Die deutsche Politik handelte während der Pandemie meist zu spät: wenn die Infektionsraten hoch waren und die Welle nicht mehr aufzuhalten war. Entscheidungen aufzuschieben, ist aber keine Lösung. Je länger man wartet, desto größer der Schaden und desto höher die Kosten. Wie problematisch ein solches Zögern ist, wurde während der Wirtschafts- und Finanzkrise Ende der 2000er-Jahre deutlich. Deutschland und
die EU warteten oft wochenlang ab und schnürten erst im letzten Moment Rettungspakete oder bewahrten Banken vor dem Zusammenbruch. Die grundlegenden Probleme, die die Krise verursacht hatten, ging die EU nicht an. In den Bilanzen der Banken schlummerten weiterhin unkalkulierbare Risiken. Zwar gab es Stresstests, die die Widerstandsfähigkeit der Banken prüfen sollten. Sie waren jedoch so unglaubwürdig, dass sie Zweifel an der Stabilität des europäischen Bankensystems nicht beseitigten, sondern sogar noch wachsen ließen.

„Dort, wo es keinen direkten Handlungsbedarf gab oder das Problem auf die lange Bank geschoben werden konnte, wurde in der Regel nicht gehandelt.“

Die USA verhielten sich ganz anders. Sie ordneten eine staatliche Zwangskapitalisierung an. Die Regierung kaufte Anteile an großen Banken zu guten Konditionen. Das stabilisierte die Kreditinstitute und hatte den Vorteil, dass das Bankensystem nicht in Zweifel gezogen wurde. Es gab transparente Stresstests. Wenn eine Bank den Test nicht bestand, musste sie Strafe zahlen und Auflagen erfüllen. Ein paar Jahre später konnte die Regierung die Aktien zu einem guten Preis wieder verkaufen.

Im Vergleich zur Finanzkrise haben Deutschland und die EU während der Coronakrise immerhin besser reagiert – wenn auch nicht so gut wie die USA oder China. Immerhin hat aber der europäische Wiederaufbaufonds mit über 750 Milliarden Euro die Lage stabilisiert. Entscheidend ist, dass Deutschland und die EU jetzt Vorkehrungen treffen müssen, um gegen künftige Pandemien besser gerüstet zu sein. Das ist unterm
Strich deutlich günstiger. Momentan die Schuldenbremse zu treten, ist deshalb nicht angebracht. Deutschland muss sich schnellstmöglich von der Pandemie erholen. Dazu braucht es mehr Investitionen, rasche Fortschritte bei der Digitalisierung und beim ökologischen Umbau.

Deutschland muss ein handlungsfähiger, starker Staat werden, eingebettet in die
europäische Solidargemeinschaft.

Während der industriellen Revolution im 18. und 19. Jahrhundert waren starke Staaten im Vorteil. Sie hatten eine effektive Verwaltung und gute Infrastruktur, sorgten für Bildung und Rechtssicherheit. Ein leistungsfähiger Staat ist heute auch für den ökologischen Wandel der Wirtschaft wichtig. Wer hier vorangeht, wird Vorteile im Wettbewerb haben. Ohnehin gibt es keine Alternative zur ökologischen Transformation.

„In den kommenden Jahren müssen wir unter Hochdruck unser Wirtschaftssystem
umbauen, wenn wir Emissionen begrenzen, den Temperaturanstieg verlangsamen und
die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten wollen.“

Zunächst aber muss der Staat die Rahmenbedingungen für den Wandel schaffen, etwa indem er CO2 so bepreist, dass sich die Emissionen auch tatsächlich reduzieren. Er muss zudem öffentliche Güter bereitstellen, Risiken übernehmen, Wagnisfinanzierung anstoßen und Grundlagenforschung betreiben. Um klimafreundliche Mobilität zu ermöglichen, muss der Staat zudem geeignete Infrastruktur schaffen und zum Beispiel in Ladestationen für Elektroautos investieren. Er sollte gezielt die technologische Entwicklung fördern. Bei allen Maßnahmen darf keinesfalls deren Sozialverträglichkeit aus dem Blick geraten. Sozial schwache Haushalte muss der Staat entlasten.

In der Resilienzforschung werden Krisen als Chance gesehen. Wenn der deutsche Staat resilienter werden will, muss er vor allem in drei Bereichen vorlegen:

  • Mentalitätswandel. In einer dynamischen Welt ist das größte Risiko, einfach vertrauten Regeln zu folgen. Deutschland muss bereit sein, kleinere Risiken einzugehen, um größere Risiken zu vermeiden. Der Staat muss unternehmerischer denken. Gleichzeitig muss die Öffentlichkeit akzeptieren, dass der Staat verschiedene Wettbewerber fördert, auch wenn am Ende nur einer Erfolg haben wird. Nicht jede Investition kann erfolgreich sein. Die Gesellschaft muss sich daran gewöhnen, dass der Staat mit Wahrscheinlichkeiten rechnet und Risiken dynamisch abwägt. Außerdem sollte der Kulturkampf um die Schuldenbremse ein Ende finden.
  • Entbürokratisierung und Verbesserung der Infrastruktur. Deutschland hat eine hervorragende Grundlagenforschung. Das zeigte nicht zuletzt der Erfolg des mRNA-Impfstoffs von Biontech. Der Staat muss aber enger als bisher mit der Wissenschaft zusammenarbeiten. Er muss eine gute Datengrundlage schaffen und eine leistungsfähige Verwaltung aufbauen.
  • Starkes Europa. Während der Pandemie zeigte sich, wie abhängig Deutschland von globalen Lieferketten war. Künftig sollte es sich jedoch verstärkt auf dem europäischen Binnenmarkt engagieren, vor allem in den Bereichen Medizin und Technologie, aber auch im Finanzsektor.

Über den Autor

Moritz Schularick ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn und forscht dort im DFG-Exzellenzcluster ECONtribute. Er gehört der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften an.

getabstract

%d Bloggern gefällt das: