Erst kam die Pandemie, dann der Krieg, die Energiekrise und der mithin offenbar sichere Niedergang der deutschen Industrie. Und: Bevor der einsetzt, scheint den Deutschen schon der nächste Untergang zu nahen – zumindest wenn es nach Kay Scheller geht, dem Chef des Bundesrechnungshofs. Der hat diese Woche in sachter Tonwahl gleich die »Explosion« der Zinsen, »dramatisch« steigende Schulden, ach, was sagen wir, den drohenden »Kontrollverlust« des Staates befunden. So viel Drama kann selbst Karl Lauterbach nicht.
Was, so Scheller, heißt, dass jetzt mal wieder »alles auf den Prüfstand« müsse, der Staat mal nicht so viel für soziale Leistungen ausgeben und sich vielmehr auf »Kernaufgaben« konzentrieren solle – und überhaupt mal wieder »schmerzhafte Entscheidungen« anstünden. Gerhard-Schröder-Revival-Tage. Weil das angeblich gut für die »junge Generation« sei.
Wirklich? Oder droht mit solchen Sprüchen nicht die Rückkehr zu Tante Ernas alter Kegelkassen-Ökonomik – dem Haushalten in Panik und nach Kassenlage, wie es einst in Deutschland gepredigt wurde? Bevor auffiel, dass das einmal eine der Hauptursachen werden würde für vernachlässigte Infrastruktur, fehlendes Personal bei Ämtern, kleingesparter Bahnausstattung und sonstwie überall mangelnde Investitionen in die Zukunft. Und es besser wäre, ein bisschen mehr nach vorn zu denken. Weil so ein Staatshaushalt eben doch keine Kegelkasse ist.
Vertrauen der Finanzwelt in die Kontrolle der deutschen Staatsfinanzen ungebrochen
Schon der alarmierende Ton hat etwas Bizarres. Kaum ein reicheres Land hat trotz der enormen kreditfinanzierten Rettungspakete der vergangenen Jahre einen immer noch so relativ niedrigen Schuldenstand – gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegt die amtliche Schuldenquote immer noch deutlich niedriger als 2010. Was die Extraschulden angeht, wird zudem ein Großteil etwa der Mittel für die Gaspreisbremse erst gar nicht genutzt werden. Das scheint auch an den oft bemühten Finanzmärkten entspannt gesehen zu werden: Der deutsche Finanzminister muss an den Märkten nach wie vor teils deutlich niedrigere Zinsen auf Staatsanleihen zahlen als seine Kollegen aus Großbritannien , Frankreich oder anderswo; was nichts anderes heißt, als dass das Vertrauen der Finanzwelt in die Kontrolle der deutschen Staatsfinanzen ungebrochen scheint – anders als bei Herrn Scheller.
Klar sind die Zinsen gestiegen – der Zinsdienst macht nach Angaben des Bundesfinanzministers jetzt 40 Milliarden Euro aus. Nur ist auch das noch kein Grund zur Panik – bei einer Wirtschaftsleistung von mehreren Billionen Euro. Wenn die Zinsen überhaupt gestiegen sind, hat das ja andererseits auch mit der Inflation zu tun. Und die ist bekanntlich für Finanzminister gar nicht so blöd – weil sie die nominalen Einnahmen des Staates erhöht und zugleich die Staatsquote tendenziell sinken lässt, schon weil das Bruttoinlandsprodukt durch die höheren Preise nominal stärker steigt. Mit dem Ergebnis, dass jene relative Schuldenlast, die am Ende zählt, gar nicht so dramatisch zunimmt: Für einen armen Schlucker sind 100 Euro Schulden ein Drama – für, sagen wir, Elon Musk ein Nichts.
Selbst wenn es den Hauch eines Anlasses zu größerer Sorge gäbe, bliebe die Frage, ob es das Beste ist, deshalb hastig alles auf den Prüfstand zu stellen, vermeintlich überflüssige (konsumtive) Sozialausgaben zu kürzen, Sondervermögen wie das für die Bundeswehr wieder abzuschaffen – und überhaupt keine neuen Schulden mehr zu machen, wie der oberste Rechnungsprüfer es vorschlägt.
Wenn es eine Lehre aus den vergangenen zehn Jahren gibt, dann die, dass genau so etwas am Ende fast immer tückisch endet. In Griechenland wie andernorts hat das alles nur schlimmer macht, weil es die Wirtschaft in eine tiefe Krise stürzt – und dem Etat dann auch nicht hilft. Das einzurechnen, gehört mittlerweile zum makroökonomischen Standard in allen internationalen Institutionen. Womöglich noch nicht in der Bonner Rechnungsbehörde.
Panisch kürzen zu wollen, hat nachweislich in der Vergangenheit auch dazu geführt, dass gerade jene Investitionen in Bahn, Infrastruktur und Klima am ehesten gekürzt wurden, die schnell zu kürzen sind, weil sie gesetzlich nicht verankert sind – obwohl sie dem Staat auf Dauer die größten Renditen versprechen. Wobei umgekehrt auch die alte (Ökonomen-)Regel wankt, wonach Sozialausgaben per se etwas Dubioses sind.
Es gibt Studien, die zeigen, dass in Großbritannien gerade aus jenen Regionen die entscheidenden Stimmen für den Brexit kamen, in denen die Menschen nicht nur den Strukturwandel zu spüren bekamen, sondern überproportional auch die Austerität – also massive Kürzungen von Sozialleistungen. Was so ähnlich Historiker auch als einen Grund für den Aufstieg der Nazis festgemacht haben. Wenn das nur ansatzweise als Regel auch hier und heute zutrifft, war es vielleicht auch weitsichtig, wenn die Regierungen bei uns solche Ausgaben für Soziales in den vergangenen Jahren eher ausgeweitet haben. Womöglich erklärt das ja sogar, warum Populisten bei uns sehr viel weniger gewichtig sind als in Trump-Amerika, Brexit-Land oder da, wo Le Pen und Meloni agieren.
Mehr noch: Wenn es eine Lehre aus den jüngsten Krisen gibt, dann eher die, dass es auch für den Finanzminister besser ist, entscheidende Dinge auch mal auf Pump zu finanzieren – um nachher weniger neue Schulden für eine Dauerkrisen-Bewältigung machen zu müssen. Über das Hochschnellen der Schulden seit Corona zu klagen, suggeriert, dass es ohne diese heute um uns besser stünde. Gewagt: Die Wirtschaft wäre ohne schnelle Hilfen sowohl nach dem Corona-Schock, als auch in der kriegsbedingten Energiekrise ohne Zweifel in eine tiefe Krise geraten – mit steigender Arbeitslosigkeit und massiven Steuerausfällen für den Finanzminister. Und mit der Folge, dass die Schulden heute höher wären als ohne das kreditfinanzierte Krisenmanagement. Nicht niedriger.
Wenn das stimmt, könnte sich schnell als fatal erweisen, jetzt hektisch alles infrage zu stellen; und darauf zu setzen, dass sich im Polit-Kampf je nach aktueller Lobbylage entscheidet, was ausgegeben wird oder nicht. Dann wäre wichtiger, gelassener zu planen und durchzurechnen, was genau welche Schulden an Rendite einzubringen versprechen – weil etwa die Verbesserung der Bahn oder Ladeinfrastruktur für E-Autos die Wirtschaft wettbewerbsfähig erhält und dazu beiträgt, dass es künftig weniger Klimakrisen und entsprechende finanzielle Schäden gibt.
Die Ausgaben von heute müssen eine bessere Welt von morgen garantieren
Dann ergäbe es eben doch auch Sinn, größere Vorhaben als Sonderschulden (oder im Schöndeutsch: Vermögen) zu planen. Warum sollten jetzt anderswo möglicherweise sinnvolle Ausgaben gekürzt werden, wenn es sich als richtig und wichtig für die Zukunft des Landes erweist, Ungleichheit abzubauen. Oder etliche mehr Milliarden noch in den schnelleren Umbau zur Klimaneutralität zu stecken. Absurd ist, für solche überlebenswichtigen Ausgaben immer gleich eine sofortige Finanzierung zu verlangen – wenn es die nun mal nicht auf Anhieb gibt.
Das ist dann, werte Rechnungsprüfer, auch für die »junge Generation« besser, der es ja nicht hilft, wenn kürzungsbedingt bei uns die Klimakrisen zunehmen oder das Land irgendwann von gefährlichen Populisten regiert wird. Es muss halt nur gewährleistet sein, dass die Ausgaben von heute auch dazu dienen, dass die Welt von morgen eine bessere ist. Dann sind zur Finanzierung auch Schulden gut.
Es gab Jahre, in denen der Rechnungshof immer damit Schlagzeilen machte, dass irgendwo ein Bürgermeister wieder einmal zu viel für ein Schwimmbad ausgegeben hat. So wie man das vom »Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung« kannte und erwartet.
Nicht so gut scheint, wenn der Verwaltungskenner darüber urteilt, welche finanzpolitische Strategie die beste ist. Und ob wir eine da eine »Zeitenwende« brauchen. Wo Deutschlands Finanzpolitik nach vielen traurigen Tante-Erna-Jahren gerade so effektiv wie lange nicht dabei war, die Folgen von Krisen aufzufangen, drohende tiefere Rezessionen mit großen Programmen zu vermeiden, endlich mehr in die Zukunft zu investieren – und so dafür zu sorgen, dass wir krisenfrei weniger Schulden haben als andere.