Es weht ein Hauch von Agenda 2010 durchs Land. Dass die Zeit des großen Geldverteilens vorbei sei. Heißt es. Und der Staat wieder kürzen müsse. Und die armen Unternehmen dringend Entlastung brauchen – weil wegen Krise im Grunde gerade die Deindustrialisierung bevorstehe.
Schon stellen eifrige Journalisten Listen auf, wo überall gekürzt werden könnte. Ein bisschen wie damals, vor fast genau 20 Jahren, als Gerhard Schröder am 14. März 2003 folglich seine große Agenda vorstellte; damals gab es Steinbrück-Koch-Kürzungslisten. Vermeintliche Krisenexperten überboten sich darin, den Abstieg Deutschlands zu prophezeien. Retronomics.
Erinnern Sie sich an die Praxisgebühr?
Dabei drängt sich zum 20. Jahrestag der Agenda-Rede ein Verdacht bei nüchternerer Betrachtung auf: dass es uns ohne die Reformen alles in allem nicht unbedingt schlechter ginge – vielleicht in vielerlei Hinsicht sogar besser. Schon weil der Großteil dessen, was damals reformiert wurde, wegen oftmals fehlender heilender bis schädlicher Wirkung seither wieder korrigiert und oft ganz zurückgenommen wurde. Ohne dass das Land deshalb ins Verderben gestürzt ist.
Zur langen Liste von Agenda-Rückzügen gehört eine Praxisgebühr, die alle zahlen mussten, wenn sie zum Arzt gingen – weil das angeblich Ausgaben kürzen hilft. Unsinn, weg. Heute gibt es einen Gesundheitsminister, der korrigieren soll, was blinde Kostenkürzung im Krankenhaus an Dramen mit sich gebracht hat. Ebenso wie der einst gestrichene Meisterbrief, weil das Handwerkerleistungen »preiswerter« machen sollte. Sehr witzig. Seit Jahren wird alles getan, den Status des Meisters wieder aufzuwerten – weil die Leistung sonst oft einfach unterirdisch ist.
Turbo-Abi – fast überall zurückgedereht
Zur erweiterten Agenda-Zeit zählt auch, junge Leute nach zwölf Jahren Abi machen zu lassen – damit sie schneller produktiv werden (und teure Lehrerstellen gekürzt werden konnten). Ebenfalls ein Reinfall – und fast überall wieder zurückgedreht. Dafür gibt’s jetzt umso dramatischeren Lehrermangel. Glückwunsch.
Die Steuerlast, die dank Agenda sinken sollte? Lag schon kurz darauf höher als zur Zeit der Schröder-Rede 2003 – weil zwar die eine oder andere (Einkommen-)Steuer gesenkt wurde, dafür aber Mehrwert- und andere Steuern stiegen. Oder weil Steuerentlastungen für die Reicheren auf Dauer dann doch politisch nicht so einfach durchzuhalten sind – in einer Zeit, in der die ohnehin schon Reichen bei Einkommen und Vermögen einsam davonziehen.
Ähnliches gilt für Sozialabgaben- und Staatsquote – die lagen zumindest bis Corona und Krieg zwar niedriger als 2003, nur lag das vor allem daran, dass die Wirtschaft lange wuchs und dies dem Staat Einnahmen brachte und Sozialausgaben ersparte. Nicht daran, dass nach der Agenda-Zeit noch viel gekürzt wurde – Angela Merkels Lehre aus dem Politdesaster, das die Agenda für Schröder bedeutete.
Mächtig korrigiert wurde im Lauf der Jahre selbst ein großer Teil der legendären Reformen am Arbeitsmarkt, die den Leuten mehr Druck machen sollten, schlechter bezahlte Wackeljobs aufzunehmen – um die Kosten für Arbeitskraft zu senken. Flexibel nach unten. Seit 2015 gibt es das Gegenteil: einen Mindestlohn – und inzwischen auch wieder mehr Schutz vor allzu viel Leiharbeit und befristeter Beschäftigung. Nicht (nur) weil es die SPD für ihre Klientel will, sondern weil sich in Deutschland wie anderswo gezeigt hat, dass die einst gelobte Deregulierung am Arbeitsmarkt zu exzessiv vielen Billiglohnjobs und Ausbeutung führt. Was heute Konsens unter Wissenschaftlern ist – bis hin zur einst streng marktliberalen OECD , die seit geraumer Zeit jetzt aktiv Mindestlöhne empfiehlt.
Süßes Gift des Billiglohns
Gut möglich, dass etwa die Verkürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld einst dazu beigetragen hat, einige Arbeitslose wieder schneller in einen Job zu treiben – sodass Stellen schneller wieder besetzt wurden. Ökonomen diagnostizieren, dass in Deutschland seit Hartz IV relativ wenig wirtschaftliches Wachstum reichte, um Jobs entstehen zu lassen. Nur ist der Effekt zum einen nicht enorm. Zum anderen heißt das ja nicht, dass es für den einen oder anderen nicht besser gewesen wäre, noch etwas länger zu suchen, um den richtigen Job zu finden. Eine niedrigere Beschäftigungsschwelle heißt volkswirtschaftlich, dass die Produktivität langsamer wächst – und damit auch das Potenzial für weiteren Wohlstand. Logisches Ergebnis einer Agenda-Philosophie, die vor allem auf billig setzte.
Zur Bilanz gehören eben auch die Kehrseiten: Ohne Agenda-Reformen hätte Deutschland nicht einen der größten Niedriglohnsektoren Europas bekommen – und ein Auseinanderdriften der Lebenswelten im Land. Mehr noch: Wenn nicht so viele Leute in Billigjobs gedrängt worden wären, würden heute auch nicht so viele Firmen über Fachkräftemangel klagen. Die muss man eben auch bezahlen wollen. Süßes Gift des Billiglohns.
Für Unternehmen mag vieles seit den Agenda-Reformen und trotz aller Rücknahmen einfacher geworden sein – so viel Profit wie selbst jetzt in der Energiekrise hat die deutsche Wirtschaft noch nie machen können. Nur ist das ja für eine Gesellschaft kein Selbstzweck. Und auch das zählt zu den Kehrseiten: Die Unternehmen in Deutschland haben ihre Gewinne auffällig wenig in die Zukunft des Landes investiert. Die Investitionsquote ist niedriger als vor der Agenda.
Ebenso wie die der öffentlichen Hand: Vor lauter staatlicher Kürzungen gibt es seitdem eben auch zu wenig Personal in den Ämtern, schlechte Versorgung von Patienten, bröckelnde Brücken und kaputte Schultoiletten. Was nicht nur an sich ärgerlich ist, sondern auch das Vertrauen in staatliche Institutionen geschwächt hat – ebenso wie das Vertrauen in eben jene Erzählung, wonach eine beglückte Wirtschaft und mehr Globalisierung automatisch für alle gut sind.
Wenn sich etwas in den 20 Jahren seit Schröders Agenda-Rede gezeigt hat, dann ist es, dass gute Wirtschaftspolitik eben doch etwas anderes ist als Verzicht und Schweiß und Tränen plus Wohlfühlpolitik für Konzerne. Dass es auf Dauer für alle besser ist:
-
höher bezahlte und besser geschützte Qualitätsarbeit entstehen zu lassen;
-
Geld und Zeit in die Ausbildung zu investieren, statt Schnell-Abis und Handwerker ohne Meisterbrief zu machen;
-
mehr Geld in die Zukunft zu investieren, als kurzfristig durch hastiges Kürzen sinkende Schulden erzwingen zu wollen – ob in Infrastruktur oder die Rettung des Klimas;
-
auch mal staatlich gesteuert für die Gesundheit (und Rente) der Leute zu sorgen, statt auf schnöde vergängliche betriebliche Kosteneffizienz zu setzen.
Keine Zeit für Wiederholungen.