Deutschland hat heute großartig kritische Geister. Manche kleben fürs Klima an Tischen, andere rufen im Krieg zu Frieden auf. Oder gegen das Impfen. Und für mehr Widerstand gegen die da oben. Kommende Woche steht auch ein richtiger Großstreik an, fast wie in Frankreich.
Nur bei einer Angelegenheit herrscht im Land kuriose Opferdemut: der Inflation. Wenn es darum geht, wer die eigentlich macht – oder davon profitiert. Und den Leuten das Geld in zeitweise stark beschleunigter Geschwindigkeit aus den Taschen oder vom Konto zieht. Keine Montagsdemos vor der Tanke, keine Blockade an der Warenkasse.
Dabei wäre Widerstand hier dringend angesagt. Festkleben für stabile Preise. Aufrufe gegen Inflationstreiber. Weil sich zunehmend bewahrheitet, was einige schon seit geraumer Zeit ahnten: anders als in früheren Inflationsperioden machen gerade eine Menge Leute Gewinn damit, im allgemeinen Inflationsgeheul mal schnell die Preise anzuheben – selbst dann, wenn sie gar nicht so dramatisch viel höhere Kosten haben.
Höchste Zeit für Widerstand. Gerade jetzt, wo es darum geht, die Inflation möglichst schnell wieder runterzukriegen – und etwa die mittlerweile stark sinkenden Gaspreise auch ordentlich an die Verbraucher weiterzugeben.
Es geht dabei nicht um die Firmen und Geschäfte, die tatsächlich sehr viel mehr zahlen müssen (oder mussten), etwa für Energie, und dies zumindest teils an die Kunden weitergeben – und jetzt vorher auch nicht goldene Gewinne einfuhren. Wer das nicht macht, droht früher oder später pleitezugehen.
Schätzungen in den USA ergeben: So viel Gewinn wie seit 70 Jahren nicht bei den Unternehmen
Nur: Wenn die Unternehmen die Kosten tatsächlich nur (teils oder ganz) weitergeben würden, müssten sie bestenfalls unverändert oder weniger Gewinn machen. Hier beginnt das Irre an den vergangenen Monaten.
Für die USA ergeben Schätzungen, dass die Wirtschaft just seit Beginn des Inflationsschubs im Schnitt nicht weniger, sondern deutlich mehr Gewinn macht – so viel wie seit 70 Jahren nicht, wie Isabella Weber und Evan Wasner von der University of Massachusetts Amherst in einem gerade erschienenen Paper schreiben. Völlig verrückt: mitten in den Jahrhundertdesastern Pandemie und Energiekrise . Und zu einer Zeit, in der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen weltweit drastische Realeinkommensverluste hinnehmen.
Wie die Schätzungen ergeben, kommen rund zwei Drittel der gesamten Inflation in den USA seit 2020 allein daher, dass die Unternehmen ihre Preise stärker erhöht haben, als es die eigenen Kosten eigentlich hergegeben hätten – also durch höhere Gewinne. Und Ähnliches scheint für Europa zu gelten. Nach Berechnungen der Europäischen Zentralbank war die Gewinninflation zwischen Anfang 2021 und Herbst 2022 in der Eurozone etwa doppelt so stark wie der Anstieg der Lohnlasten für die Unternehmen.
Für Deutschland fehlen entsprechend aktuelle Statistiken, nur deutet auch hier alles auf eine ähnliche Entwicklung. Gemessen am Umsatz, der durch die höheren Preise deutlich gestiegen ist, sind die Lohnkosten in der deutschen Wirtschaft seit Mitte 2020 um fast fünf Prozent gesunken. Ein Indiz für höhere Profite. Wie die Auswertungen der Bilanzen ergeben, haben zumindest die Gewinne der Dax-Konzerne in der Krise tatsächlich neue Rekorde erreicht – das kann man keinem Rentner oder Arbeiter vermitteln, der am Monatsende wegen der Inflation derzeit regelmäßig in die roten Zahlen gerät. Mal ganz zu schweigen – nur weil es gerade Thema war – von den Boni, die Schweizer Banker auf dem Weg in den Ruin ihres Geldhauses noch eingestrichen haben.
Was da passiert ist, haben Weber und Wasner in ihrer Studie zu ergründen versucht – und dabei etliche Fälle von Pepsi und Coca-Cola bis hin zu Procter and Gamble ausgewertet, die in der Krise ihre Preise deutlich stärker anhoben, als es die höheren eigenen Kosten nötig gemacht hätten. Und deren Chefs teils sehr offen darüber sinnierten, dass die Notlagen, die etwa durch Lieferengpässe in der Pandemie entstanden, Gelegenheit boten, über höhere Preise gleich zusätzlich Gewinn einzuholen. Weil die Verbraucher teils keine Alternativen hatten – oder die Marken so gut etabliert sind, dass sie nicht so viel Konkurrenz zu fürchten hatten.
Preiserhöhungen in großem Stil
Warum haben sie die Preise dann aber just jetzt erhöht, fragen die beiden Wissenschaftler. Eine Antwort: Engpässe und andere Besonderheiten haben in der Not gerade große Konzerne dazu animiert, unausgesprochen abgestimmt mit der Konkurrenz die Preise anzuheben – was gewährleistet, dass dadurch keine Marktanteile verloren gehen. Zumindest erst mal.
Das Phänomen ist umso gefährlicher, als genau das auch zu verhindern droht, dass die mittlerweile teils stark wieder fallenden Preise ebenso eifrig wie vorher die steigenden Kosten an die Kundschaft weitergegeben werden. Aus einer einmaligen Gewinninflation kann so auch eine dauerhafte werden, zumal wenn Gewerkschaften und andere dann – verständlicherweise – Ausgleich dafür zu bekommen versuchen. Dann droht schlimmstenfalls doch noch eine Lohn-Preis-Spirale, die aber eigentlich eine Gewinn-Preis-Lohn-Spirale ist.
In Frankreich wird seit zehn Tagen mit viel Brimborium ein Anti-Inflations-Quartal praktiziert, bei dem auf öffentlichen Druck die großen Supermärkte versprechen mussten, einen Teil der Ware zum Niedrigstpreis anzubieten – was immer das im Detail auch heißt und bewirkt: Der Reflex ist nicht schlecht.
Wer die Inflation und ihre Folgen beheben will, sollte weniger Demut vor denen haben, die in der Krise zum Leid anderer ihre Preise und Gewinne aufgebessert haben. Ein Fall für Verbraucherschützer und andere: ein bisschen mehr darüber reden, welche Firmen plötzlich doch erstaunlich viel Gewinn machen – obwohl sie gar nicht ebenso erstaunlich viel höhere Kosten haben. Und vielleicht dann auch mal dafür werben, eine Zeit lang solche Produkte einfach nicht mehr zu kaufen. Dafür muss sich niemand gleich an die Kasse kleben.
Frei nach dem Motto: Wenn der Wettbewerb aus freien marktwirtschaftlichen Stücken nicht hinreichend wirkt, muss man gelegentlich auch mal nachhelfen. Und auf Dauer natürlich dafür sorgen, dass es so etwas nicht mehr gibt. Ohne richtigen Wettbewerb läuft in einer Gesellschaft, die auf Wohlstand durch Marktwirtschaft zählt, etwas gravierend falsch.