Die Linie scheint klar – und irgendwie auch nachvollziehbar: Gärt Umfragen zufolge im Volk Unmut – die FDP ist mit schnellem Rat da. Gegen Coronamasken, das Verbot neuer Verbrennerautos oder die Austauschpflicht für kaputte Gasheizungen. Gegen das Aufweichen von Schuldenregeln. Und für Strenge, wenn es darum geht, Ausgabenwünsche im Bundeskabinett abzubügeln.
Seit die Partei fünf Landtagswahlen in Folge versemmelt hat, scheint alles oder vieles recht, um sich, wie es heißt, wieder zu profilieren. Gegen den kurios wirkenden Verdacht, in der Ampel nicht mehr erkennbar zu sein. Um die alte, eher konservative Klientel wiederzugewinnen. Oder irgendwie als Retter der Freiheit im Land dazustehen.
Was erste FDP-geneigte Kommentatoren schon zum Ausrufen der großen Wiederkehr animiert – als Urteil eher großzügig, wo die Partei trotz Dauermedienpolterpräsenz um Corona-, Verbrenner- oder Heizungsverbote und Christian Lindners talkshow-täglicher Kulleraugen-Sparappelle nach wie vor in Umfragen nicht über sieben bis acht Prozent hinauskommt. Das ist nicht mal halb so viel, wie die blöden Grünen haben – die Lindner bei der Bundestagswahl noch überholen wollte.
Kann sein, dass die Partei nur weiter Gelegenheiten wie die Verbrennersache nutzen muss, um sich noch ein bisschen mehr zu erholen. Nur: Wird das zum Erfolg reichen, wenn es selbst nach Monaten des Nörgelns nur zu zwei, drei Umfragepünktchen mehr seit dem Tief von Dezember gereicht hat? Gut möglich, dass hinter alledem etwas viel Tieferliegendes steckt: dass die Partei vor lauter hastigem Marketingeifer nach wie vor keinen Ersatz für jenen jahrzehntelang gehegten Marktdogmatismus gefunden hat, dessen Glaubwürdigkeit heute nun einmal weltweit dahin ist – weil er zu viel Schaden angerichtet hat und in einer Zeit der Klima-, Ungleichheits- und Globalisierungskrisen als Zaubermittel nicht taugt.
Das Versagen des Liberalismus
Dass man für so eine Diagnose kein ausgewiesener Kommunist sein muss, hat der große Liberale Timothy Garton Ash vor einer Weile in einem großartigen Essay dargelegt. Wer den Liberalismus retten wolle, müsse sich auch »mit dem Versagen dessen auseinandersetzen, was in den letzten dreißig Jahren als Liberalismus durchging – ein eindimensional ökonomischer Liberalismus, im schlimmsten Fall ein dogmatischer Marktfundamentalismus«.
Zu diesem Versagen gehöre, dass entgegen den Versprechungen eben nicht alle davon profitiert haben, sondern dass Einkommen und Vermögen im Gegenteil teils dramatisch auseinandergedriftet sind. Dass es etliche Verlierer der Globalisierung gibt. Und dass sich »die Schere der Lebenschancen« nun schon mit der Geburt öffnet. Dass es heute eine Erb-Meritokratie gibt. Und dass ein Großteil der Leute gar keine Chance mehr hat, da mitzuhalten – anders als es die Marktliberalen versprachen.
Zum Versagen dieser Art Liberalismus gehört auch, dass einzelne Konzerne durch eine unkoordinierte Globalisierung viel zu viel Macht bekommen haben. Und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stattdessen oft dem Gefühl des Kontrollverlusts ausgesetzt sind – was sie empfänglich für Populisten macht. Und dass Finanzmärkte eben doch nicht so effizient sind, sondern immer wieder zu Euphorie und Krisen neigen . Und dass eben der Markt doch nicht schnell genug dafür sorgt, klimafreundliche Technologien zu entwickeln – sonst bräuchte es ja keine Verbote alter Technik.
Was ist das für eine Idee von Freiheit, wenn es je nach Geburt für die meisten Menschen kaum noch Chancen gibt, gegenüber den Erbschaftsreichen jemals aufzuholen? Oder wenn Banken vor lauter Freiheit immer wieder in Desaster steuern, die dann der Rest der Leute im Land relativ unfrei bezahlen muss? Und was taugt eine angeblich so liberale Technologieoffenheit, wenn es für große Transformationen etwa hin zur Klimaneutralität nach aller Erfahrung einfach Ansagen braucht, wie gerade in den USA zu beobachten. Seit Joe Biden massiv Subventionen bereitstellt, gibt es im Land plötzlich einen regelrechten Gründerboom in Sachen Elektromobilität und erneuerbare Energien.
Bei alledem ist das Muster ähnlich: Wer den Menschen Freiheit geben will, muss die Voraussetzungen dafür in der heutigen Welt eben oft erst schaffen – und, auch wenn das erst mal widersinnig wirkt, muss dafür oft erst der Staat sorgen. Weil dann oft erst Freiheit wirkt. Das Freisetzen unternehmerischer Fantasie in Sachen Klimaneutralität funktioniert in den USA erst, seit der Staat den Anstoß gegeben hat.
Wie Garton Ash schreibt, müssten Liberale dafür dann auch »radikalere Maßnahmen unterstützen«, als die meisten in den vergangenen Jahrzehnten »erwägen mochten«. Dazu könne ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle gehören – oder ein steuerfinanziertes Minimalerbe für alle. Oder eine Grundversorgung mit wichtigen Leistungen – ob für Gesundheit oder Wohnen. Wer wirklich liberal denkt, sollte alles daransetzen, Reichen die Möglichkeiten zu verbauen, ihr Geld in Steueroasen verschwinden zu lassen. Oder Gewerkschaften eher wieder stärken, um der »Macht des Kapitals« etwas entgegenzusetzen. Wer aus tiefer liberaler Überzeugung findet, dass eine derart sich verfestigende Ungleichheit untragbar sei, müsse auch Vermögensteuern erwägen – oder eine effektivere Besteuerung von Digitalunternehmen. Und höhere Steuern auf Grundstücke – wogegen in Deutschland gerade viele Leute Sturm laufen, die sich als konventionell liberal empfinden. Am Ende brauche es auch wieder mehr lokale Kontrolle gegenüber dem, was die Globalisierung an Ohnmacht mit sich gebracht hat.
Noch mal: Die Vorschläge kommen nicht aus der Linkspartei, sondern von einem der großen liberalen Vordenker international. Und sie entstehen gerade aus der tiefen Sorge um den Liberalismus – weil der alte »technokratische« Liberalismus so viele Probleme mit sich gebracht hat. Das Versagen habe »Millionen Wähler zu den Populisten getrieben«, so Garton Ash.
Was es brauche, sei ein Liberalismus, der empathischer sei. Und mehr Fantasie habe. Einer, der politisch erst mal wieder dafür sorgt, dass die Menschen Freiheit entwickeln können – und nicht nur diejenigen, die privilegiert sind.
Dass die Zeiten sich wandeln, ist auch in der FDP angekommen. So ganz offen propagiert auch Parteichef Lindner die Tugenden des Marktliberalismus und der angeblich einzigen Leistungsträger nicht mehr. In der Praxis muss es beim Profilieren dann aber doch wieder die Steuererleichterung für die Besserverdienenden sein. Oder der Markt, der angeblich das Klima rettet.
Der Abschied von einem »technokratischen« Liberalismus sähe anders aus als derzeit bei der FDP. Da reicht es, noch mal laut zu lesen, womit die FDP sich derzeit so zu profilieren versucht: ob mit dem Abbau »kalter Progression« und des »Mittelstandbauchs im Steuertarif«, dem irgendwie vorübergehenden Weiterbetrieb von Atomkraft – oder irgendeiner »Digitalisierung«, als sei die immer gut. Als hätten viele nicht vor allem Angst davor. Das hat in Sachen liberaler Empathie, sagen wir es vorsichtig, durchaus noch Potenzial. So sehr manchem die Liebe zum Auto Freude bereitet.
Ein zeitgemäß attraktiver Liberalismus müsste viel mehr mitdenken, was an den Schäden seines Vorgängers zu reparieren ist. Und dazu bräuchte es auch ein viel konstruktiveres Denken über die Rolle des Staates – beim Herrichten liberaler Voraussetzungen. Statt mehr oder weniger reflexartigem alt-liberalem Gepolter gegenüber allem Staatlichen. Und es bräuchte ein modern-liberales Verständnis von einem kreativen Staat, der die Voraussetzung für wahre Freiheit schafft.
Es wäre höchste Zeit, zumindest das Scheitern des alten Liberalismus einzugestehen – und sehr viel grundlegender darüber nachzudenken, wie ein großer neuer Liberalismus in Zeiten von Klimakrisen, Ungleichheit und globalen Turbulenzen aussehen müsste. Einer, der wirklich Freiheit für alle schafft. Vielleicht reicht es in den Umfragen dann auch wieder für zehn und mehr Prozent. Andernfalls könnte bald auffliegen, dass es für so einen Neustart nicht reicht, sich über noch so opportune technokratisch-liberale Nörgelei mit Hang zu alten Rezepten zu profilieren.