In der Regel führen Erkenntnissprünge in der Geschichte der Menschheit dazu, dass alte Vorgehensweisen abgelöst werden. Kein Mensch würde heute noch Feuer mit Steinen machen. Und beim Arzt ist es dank fortschrittlicher Operationspraktiken auch nicht mehr üblich, Verletzten immer gleich das Bein zu amputieren.
Nur wenn es um die Handhabung staatlicher Finanzen geht, scheint der Fortschritt nicht so linear zu verlaufen. Zumindest bei uns. Anders lässt sich jener etwas antik wirkende Eifer schwer erklären, mit dem die durch Christian Lindner verkörperte Bundesregierung derzeit spätklug gegen neue Schuldenregeln zu kämpfen versucht, wie sie die EU-Kommission jetzt vorgeschlagen hat – und stattdessen wie früher wieder auf starr verpflichtenden jährlichen Schuldenabbau setzen möchte. Als hätte es die Jahre schlechter Erfahrung mit solcher Planerfüllungspolitik nicht gegeben. Wozu es ja mittlerweile – Erkenntnisfortschritt – erdrückend viel Forschung und praktische Beispiele gibt, die für flexible Vernunft statt Betonprinzip sprechen.
Wir: gut. Die: böse
Die hiesige Lernschwäche scheint bei der vermuteten Ursache aller Probleme zu beginnen, wonach die anderen einfach bewusst geschludert, zu viele Schulden gemacht und sich dann gegen Sanierung gewehrt haben. Warum auch immer. Weshalb es jetzt als Lehre halt umso klarere Regeln, strengere Vorgaben und Hiebe geben muss. Wir: gut. Die: böse. Einfach.
Jetzt wollen wir nicht darauf rumreiten, dass unsere Finanz- und Verkehrsminister in Brüssel gelegentlich mal Vereinbarungen Vereinbarung sein lassen, wenn es um, sagen wir, ein von allen 27 EU-Staaten beschlossenes Auslaufen von Verbrennungsmotoren geht. Oder darum, über Sondervermögen die Schuldenregeln zu umgehen (was an sich gut ist). Klare Regeln! Außer, wenn Deutschland gerade etwas anderes für sich gut findet. Aber wir wollten ja nicht darauf rumreiten.
Wenn die alte Praxis jährlich fixierter Defizitquoten und 60-Prozent-Schuldenlimits nicht funktioniert hat, mag das hier und da mit bösen Regierungen zu tun haben. Es darauf zu reduzieren, ist allerdings irre: Tante-Erna-Ökonomie. Es gibt ja eine Menge Hinweise, dass allzu fixe Regeln ökonomisch gar nicht so gut sind – und aus Einsicht deshalb gelockert wurden.
Zu den Tücken der Hauruck-Logik jährlicher fixierter Ziele und Rückführung zählt, dass:
-
es auf den Multimilliarden-Haushalt eines Landes wie Deutschland enorm viele globale Einflüsse gibt, die bestimmen, wie viel so ein Staat am Ende einnimmt und ausgibt – was im Guten wie im Schlechten heißt, dass es per se schwierig ist, exakte Ziele einigermaßen genau zu erreichen;
-
solche Unwägbarkeiten dazu führen, dass alle Versuche, die Ziele trotzdem zu erreichen, rasch in einem hastigen Wechsel aus Hinterhersparen und Großzügigkeit enden, was in etwa das Gegenteil von Klarheit und Vorhersehbarkeit ist;
-
in guten Zeiten eher zu wenig konsolidiert wird, da Wirtschaftswachstum automatisch für bessere Staatsfinanzen sorgt – Gruß an Wolfgang Schäuble;
-
in schlechten Zeiten schnell kontraproduktiv hinterhergekürzt wird oder Steuern angehoben werden – was die Wirtschaft nur noch mehr schwächt und wegen krisenbedingter Steuerausfälle doch wieder zu mehr Schulden führt;
-
unter Druck in akuten Krisen immer zuerst da gekürzt wird, wo es am einfachsten ist – bei Investitionen, was wiederum zu nachlassender Wirtschafts- und Finanzkraft in der Zukunft führt; da braucht man sich in Deutschland derzeit nur die Bahn anzuschauen – gelebte Kurzsichtigkeit;
-
angesichts mangelnder Prioritätensetzung dann auch die Ausgaben gekürzt werden, die längerfristig wichtig sind, um etwa den Klimakollaps noch abzuwenden;
-
es in demokratischen Ländern auf Dauer schwer zu legitimieren ist, wenn die jährliche Planung von Beamten aus Brüssel oder deutschen Besserwisserministern vorgegeben wird; was Populisten in Frankreich und Italien immer wieder genutzt und sie gestärkt hat.
Welche Dramen aus alldem entstehen, ist x-mal erforscht worden. Sowohl was die widersinnige Prozyklik der Fiskalpolitik angeht, in Krisen zu kürzen und sie zu verschlimmern, als auch die drastisch gesunkenen öffentlichen Investitionen, die in Spanien wie Italien während der Pandemie zu den dramatischen Verhältnissen in den Krankenhäusern beigetragen haben.
In Griechenland hat die Austerität zu einem gigantischen Verlust an Wirtschaftskraft geführt – was die Schuldenlage nur noch verschlimmerte. In Italien dürfte gerade der Dauerdruck, Überschüsse im Haushalt zu erwirtschaften (wenn man Zinszahlungen rausrechnet), auch zur Dauerschwäche der Wirtschaft beigetragen haben. Ein Teufelskreis, der auch erklären könnte, dass Italien heute von der Rechtspopulistin Giorgia Meloni regiert wird. In Großbritannien kam Studien zufolge eine Mehrheit für den Brexit vor allem aus Regionen, in denen der Staat vor Jahren besonders rabiat Ausgaben gekürzt hat.
Es ist schon eine irre Idee, dann von Ländern mit besonders hohen (Alt-)Schulden, wie etwa Italien, eine besonders stramme und durchgehende Konsolidierung zu verlangen, wie das die Bundesregierung versucht. Was nur den Teufelskreis verschlimmern, aber die Schulden nicht reduzieren würde. Bringt ja nichts, stramme Vorgaben zu machen – wenn das in der realen Welt angesichts gängiger Rückwirkungen gar nicht zu einem Abbau der Staatsschulden führt.
Wie real das Risiko ist, lässt eine Studie erahnen, die der Internationale Währungsfonds (IWF) gerade veröffentlicht hat. Demnach scheitern Versuche, die Staatsschulden über aktive Konsolidierung zu reduzieren, ziemlich häufig. Macht man einen Schnitt durch die Erfahrungswerte, seien die Schulden danach nicht niedriger, sondern höher, so die IWF-Auswertung. Erfolgreich seien die Versuche, wenn eine Reihe günstiger Umstände gegeben seien – von einer per se dynamischen Wirtschaft und Expansionsmöglichkeiten auf benachbarten Märkten über günstige Zinsen bis hin zum richtigen Mix aus Maßnahmen, die auf Land und Leute zur richtigen Zeit passen. Was halt nicht immer gegeben ist. Anders als zu Wolfgang Schäubles Schwarzer-Null-Zeit. Wenn das gute Umfeld fehlt, wird auch nichts schwarz.
Passgenaue Deals für jedes Land
Was die IWF-Ökonomen diagnostizieren, bestätigt das, was Fiskal-Vordenker seit Jahren vermuten – dass es auf Zeit und Ort und Maßnahmen ankommt. Und eben nicht auf rabiate Vorgaben für alle und jederzeit. Ein Befund, der erklären dürfte, warum auch die EU-Kommission nach Konsultation fortgeschrittener Experten jetzt vorschlägt, was sie vorgeschlagen hat: dass es besser ist, mit jedem Land einen zugeschnittenen Deal zu machen – je nach Ausgangslage und Umständen. Und dabei auf hohe Eigenverantwortung zu setzen. Und am besten noch alles aus den Streichlisten zu nehmen, was wichtig fürs Klima ist. Noch besser wäre es, ein Land wie Italien angesichts der Erfahrung gar nicht darauf festzulegen, zwanghaft die Schuldenmarke von 60 Prozent wieder zu erreichen – solange das Land nicht wirtschaftlich die Wende geschafft hat. Dann folgt auch der Schuldenabbau.
Klar, da regt sich der deutsche Ordnungsgeist – und die Mutmaßung, da könnten wieder mal unsolide Kandidaten zu lavieren versuchen. Nur hilft’s ja nichts, wenn blinde Regeltreue das Gegenteil davon bewirkt, was sie bewirken soll – und dies Stand des Erkenntnisfortschritts der Menschheit ist. Dann ist es schon einigermaßen fahrlässig, stoisch klare Regeln einzufordern. Dann braucht es flexible Lösungen – und auch mal Abweichungen, wenn es gute Gründe gibt. So sehr sich über Gründe streiten lässt.
Es gehört zu den deutschen Unarten, anderen mit reichlich Überheblichkeit vorschrieben zu wollen, was richtig ist. Gesellt sich dazu noch eine ausgeprägte ökonomische Lernschwäche, kommt das heraus, was die Bundesregierung gerade anzurichten droht. Nichts Gutes.