Es gehört zu den etablierten Ritualen gängiger Kassenwarte: Wenn es darum geht, wer was ausgeben darf, muss der Finanzchef tief die Stirn runzeln, aufstöhnen und kundtun, wie schlecht es doch eigentlich ums Geld steht und dass eigentlich nichts zu verteilen ist. Allein damit nicht alle wieder mit wilden Wünschen kommen.
So ähnlich ist das auch bei unserem Bundeskassenwart Christian Lindner. Weil er ein guter Verkäufer ist, bringt er das Ganze noch auf publikumswirksam einfache Formeln. Und verweist seit Monaten stoisch auf den vermeintlich totschlagenden Umstand, dass er (respektive wir, weil es ja unser Geld sei) wegen der inflationsbedingt so stark gestiegenen Zinsen jetzt viel mehr Geld braucht: ganze 40 statt kürzlich noch wenige Milliarden Euro, um Schulden allein beim Bund zu bedienen. Was daher eben fehle, um, sagen wir, eine Kindergrundsicherung zu bezahlen. Oder mehr Geld fürs Klima auszugeben. Jetzt gibt es stattdessen Haushaltsstau in der Ampelkoalition.
Milliardenschwere Ausreißer wegen formaler Nachbuchungen
Dass schon die 40 Milliarden ein wenig übertrieben sind, bemängeln Bereichsfachleute seit Längerem. Wenn die Zahl 2023 so hoch ausfalle, liege das vor allem an formalen Nachbuchungen aus früheren Jahren, sagt Achim Truger, Mitglied im Sachverständigenrat und Stabilitätsbeirat beim Finanzministerium. Die Experten und Expertinnen hatten schon 2022 in einem Gutachten angemahnt , die entsprechende Buchungspraxis zu verstetigen, um solch verwirrende Ausreißer zu vermeiden. Ähnliches befanden die Kollegen der Bundesbank – auch die ja keine Hallodris, wenn es um Stabilität geht.
Bucht man so, wie es sinnvoller ist, und über die Jahre gestreckt, ist die Lage schon weit weniger dramatisch. Logisch: Die Zinsen sind seit 2022 gestiegen, aber so dramatisch auch nicht – viele Staatsanleihen laufen ohnehin noch mit den alten Nullzinsen. Alles in allem sei der Anteil der Zinszahlungen des Staates von 0,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2021 auf 0,7 Prozent im vergangenen Jahr gestiegen – und dürfte dieses Jahr bei 0,8 liegen, schätzen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem jüngsten Frühjahrsgutachten. Das ist keine Explosion, eher ein Minianstieg. Und alles andere als das, was der Finanzminister als Alarmbotschaft in die Talkshows gibt.
Noch 2015 lag diese Quote mit 1,4 Prozent deutlich höher – was den damaligen Finanzminister nicht abhielt, mit schwarzer Null abzuschließen. Geht. Ähnliches gilt, wenn man die Ausgaben daran misst, was der Staat einnimmt: Die entsprechende Zinssteuerquote dürfte zwar von 2,4 Prozent 2021 auf vermutlich 3,5 Prozent in diesem Jahr steigen, so die Institute. Auch das ist nur weit weniger als noch vor ein paar Jahren – mit sechs Prozent 2015.
Womit wir bei etwas sind, was der Finanzminister mit dem theatralisch vorgetragenen Verweis auf die gestiegene Zinslast ohnehin galant unerwähnt lässt: dass es ja nicht nur böse Zinsen gibt – und der Staat von so einer Inflation und hohen Zinsen ja hier und da auch profitiert. Etwa deshalb, weil die öffentliche Hand auch Vermögen führt, die jetzt besser verzinst werden. Oder weil bei steigenden Preisen das nominale Bruttoinlandsprodukt und die Löhne stark steigen – und dadurch per se höhere Steuereinnahmen angelegt sind, wie die Institute schreiben. Für 2024 erwarten die Fachleute ein Einnahmeplus für den Staat von fast sechs Prozent. Armut sieht anders aus.
Zumal etwa Coronahilfen an Unternehmen oder Energiepauschalen für Haushalte jetzt automatisch wegfallen, die in der Not 2021 und 2022 noch gezahlt wurden. Absehbar.
Zum Unglück des Ministers kommt hinzu, dass alles Mögliche in diesen Tagen auch noch besser läuft als kürzlich so sorgsam prophezeit. Statt zu schrumpfen, dürfte die Wirtschaftsleistung 2023 leicht zulegen. Die Preise für Gas sind wieder so drastisch gesunken, dass kaum Mittel aus jenem Sonderfonds nötig werden, die noch kürzlich mit zig Milliarden zu finanzieren nötig erschien. Was zugleich heißt, dass die Inflation bald nachlassen könnte – und dann auch die Zinsen.
Für 2023 rechnen Forscher mittlerweile mit einem deutschen Gesamtstaatsdefizit von nur noch gut zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das wäre selbst zu Normalzeiten keine Katastrophe. Es kommt einem kleinen Wunder gleich, wenn man bedenkt, dass es gerade eine Jahrhundertpandemie, einen Krieg samt Zeitenwende und einen historisch atemberaubenden Energieschock mit halbjährlich neuen staatlichen Rettungsprogrammen gab. Jenseits kurzfristiger Ausschläge dürfte Deutschland 2024 schon wieder einen strukturell in etwa ausgeglichenen Haushalt haben. Törö.
Bei Steuerentlastungen geht beim FDP-Chef immer was
Ein bisschen patzig wirkt, wenn der Finanzminister trotzdem noch an der Schätzung festhält, nach der das Gesamtdefizit 2023 mit mehr als vier Prozent doppelt so hoch ausfalle wie derzeit gängig geschätzt. Mit Verweis auf rechtliche Gründe. Wenn es de facto nicht so hoch ist, machen auch keine rechtlichen Irrungen die Sache schlimmer. Nur dass dann eben das Leidensargument wegfällt, wonach die Finanzlage viel zu fürchterlich furchtbar schlimm ist, um so etwas Nebensächliches wie etwa eine Kindergrundsicherung gut auszustatten.
Eine Frage der Prioritäten. Dass Geld da ist, wenn es gebraucht wird, lässt sich ja auch immer dann ein wenig erahnen, wenn es darum geht, die, sagen wir, etwas Wohlhabenderen steuerlich zu entlasten. Da geht beim FDP-Chef immer was.
Für den Finanzminister droht gerade die alte Manie aufzufliegen, wonach sich ein Staatshaushalt am besten über möglichst theatralisch aufgebaute Krisenstimmung managen lässt. Finanzpolitik nach Kassenlage statt danach, was wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich auf lange Sicht gut und wichtig ist. Schon weil sich das auf Dauer auszahlt.
Sonst ist bei besserer Lage der Druck zu vernünftiger Verwendung der Gelder auch schnell wieder weg. Es ist ja per se gut, Geld zu kürzen, wo es nicht sinnvoll verwendet wird. Egal wie gerade die Kassenlage ist. Und umgekehrt. Dass Geld verschwendet wird, wird ja ebenso wenig besser, wenn die Gesamtlage gerade hübsch aussieht, wie es plötzlich falsch ist, in die Zukunft zu investieren, wenn mal die Finanzlage nicht so gut ist. Alles andere ist schlechte Kassenführung.