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Thomas Fricke: Deutschland hat riesige Probleme – und droht sich in Aufregung über Trauzeugen zu verlieren

12. Mai 2023

Chinesen und Amerikaner definieren die globalen wirtschaftlichen Spielregeln neu. Deutschland steht am Rand – und wirkt wie gebannt in einer alten Welt.

Die Inflation bringt etliche Menschen im Land gerade an den Rand des Ruins. In der Ukraine droht ein Krieg zu eskalieren. Europa steht womöglich vor dem nächsten Brutsommer. Amerikaner und Chinesen proben dazu den Wirtschaftskrieg – und stellen die Weltordnung um. Und die Deutschen? Kriegen gerade seit Wochen stetig neue Mutmaßungen zur Familiensaga aus dem landeseigenen Wirtschaftsministerium. Mit täglichem Update in den Hauptnachrichten.

Nicht, dass das nicht wichtig wäre. Es gehört geklärt, wenn sich der Verdacht auf Vorteilsnahme aufdrängt. Ein bisschen scheint all die politisch, sagen wir, nicht ganz unmotivierte Aufregung dann aber doch in schrägem Verhältnis. Und fast könnte sich der Gedanke aufdrängen, dass es vielleicht auch ganz schön wäre, wenn im Land mit genauso viel Energie und Eifer daran gearbeitet würde, die möglicherweise noch etwas größeren Probleme zu lösen. Auch wenn das spontan-menschliche Aufregungspotenzial um die Grundsätze der wirtschaftlichen Weltordnung und die Feinheiten industriepolitischer Aktionen eher klein, die Bedeutung für unsere Zukunft dafür umso größer ist.

Das gilt ja gleich für mehrere drängende Fragen: was jenseits aller wirtschaftlicher Partikularinteressen die effizienteste Wohlstands-Klimapolitik ist; wie deutsche Industrie und Exportmodell jenseits des notorisch-deutschen Klagens in geopolitisch kritischen Zeiten zu retten sind; wie neue Industriepolitik anno 2023 aussieht und was wirklich gegen Inflation hilft.
 
Alarm. Was dazu im Land an klima- und industriepolitischen (Gegen-)Vorschlägen so kursiert, erweist sich gemessen an internationalen Standards als zunehmend weltfremd und tumb. Danach wäre es besser, Klimapolitik  über höhere Preise zu machen statt über Verbote oder Anreize. Selbst wenn das irgendwann (theoretisch) dazu führen würde, Klimaziele zu erreichen – hätte das Land vorher mit einiger Sicherheit einen Aufstand. Die hübsche Formel hieße ja nichts anderes, als dass den Leuten ihr Autotanken und Gasheizen so lange teurer gemacht würde, bis sie die Mittel dafür nicht mehr haben – oder eben auf anderes umsteigen, wenn es das dann gibt. Die Heizkosten müssten grob geschätzt hundert Euro pro Quadratmeter im Jahr hochschnellen, um die Klimaziele zu erreichen, schätzt Sebastian Dullien vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). So einen Preisschock als galante Alternative zu verkaufen zu einer sachte formulierten Terminsetzung, wann nur noch klimaneutrale Heizungen einzusetzen sind, ist entweder verlogen, weil es sowieso nicht kommt – oder mutwillige Volksverblödung.
 
Noch abenteuerlicher wirkt die Idee, seit Amerikaner und Chinesen statt auf solche Preisträume auf eine Industriepolitik  mit dreistelligen Milliardengeldern, massiven Investitionen und Subventionen auf klimaschonende Technologie wie Elektromobilität und anderes setzen. Was in beiden Ländern in den entsprechenden Branchen einen Boom ausgelöst hat – und Unternehmen aus dem Traumland des Ordoliberalismus ausschließt. Es hat etwas Naives, in so einem Umfeld noch darauf zu setzen, das Klima über den langen und angeblich technologieoffenen Weg der Verteuerung böser Autos und Gasheizungen zu retten. Reizende Ökonomie nach Lehrbüchern aus dem vergangenen Jahrtausend.

Was für Klimarezepte gilt, gilt auch für anderes: ob für die naive Vorstellung, in der heutigen Welt noch mit purer Freihandelsromantik Wohlstand zu retten. Oder für das Bestreben, die Inflation wie nach Standard allein mit höheren Zinsen durch die Notenbanken zu bekämpfen.
 

Aufbauen statt Laissez-faire

 

Das alles passt nicht mehr. Wie der Ökonom und Blogger Noah Smith schreibt, habe sich in den USA wirtschaftspolitisch unter Joe Biden ein historischer Zeitenwechsel vollzogen, der bereits unter Donald Trump eingesetzt habe. Der Freihandelskonsens sei als Leitmotiv schlicht und einfach in Amerika heute »tot«. Und auch wenn es noch keine fertige Alternative gebe, sei erkennbar, was da entstehe, wie kürzlich Joe Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan dargelegt habe. Jetzt gehe es darum, dass die Regierung bewusst etwas »aufbaue«, damit Wirtschaft und Menschen besser geschützt seien, so Sullivan: gegen Chinas Macht und Konkurrenz, geopolitische Gefahren, die Klimakrise und die Ungleichheit im Land. Die Regierung als Richtungsweiser. Und: aufbauen – statt Laissez-faire, wie es lange als Dogma galt.

Neu sei an Bidens Großstrategie zudem, mit großen Gesetzen möglichst alle großen Ziele der Zeit gleichzeitig anzusteuern. Auch das wäre in der marktliberalen Welt tabu gewesen. Was gegen unfaire Konkurrenz aus China helfe, solle zugleich Ungleichheit abbauen – und das Klima retten. Was nirgends so klar wird wie in Bidens Chips Act zur Neuansiedlung sensibler Industrien in den USA (statt in China) und im Inflation Reduction Act mit seinen Hundert-Milliarden-Dollar-Subventionen an Firmen, die im Inland (statt in China) in saubere (Elektro-)Mobilität (statt alte Autos) investieren. Das soll automatisch für mehr Jobs, weniger China-Abhängigkeit und besseres Klima zugleich sorgen – und deklaratorisch auch gegen Inflation helfen: wenigstens so, dass durch die subventionsgetriebenen neuen Kapazitäten weitere Engpässe und damit Preisschübe verhindert werden.

All das hat mit dem Leitbild nur noch wenig zu tun, das in Deutschland allen globalen Umwälzungen und Großkrisen zum Trotz noch gruselig präsent scheint: wonach die beste Krisenpolitik ist, noch mehr Freihandel anzustreben – und darauf zu hoffen, dass durch mehr Handel schon weniger Abhängigkeit entstehe. Und die Wirtschaft schon aus Prinzip bloß nicht zu subventionieren ist, selbst wenn es unstrittig dringlichen Zwecken dient; weil das irgendeine heilige Lehre so will (obwohl Amerikaner wie Chinesen das längst nicht mehr glauben).

Und gegen Klimakrisen angeblich (fast) allein der Markt und hohe CO₂-Preise helfen. Obwohl es dafür praktisch wenig Belege gibt. Und die Notenbank einfach nur ihre Zinsen anheben soll – egal wie unsinnig das in einer Situation ist, in der die Inflation gar nicht von einer generellen Überhitzung der Konjunktur kommt, wie es das Lehrbuch vorsieht; und es eben überall in der Praxis anders gehandhabt wird – ob über Tankrabatte, konzertierte Aktionen zwischen Sozialpartnern oder Inflation Reduction Acts, was eben gar nicht die Notenbank macht. Und was trotzdem hilft.

In der alten Welt haben im Zweifel die Finanzmärkte entschieden, wo es langging: weil die Politik das dem Leitbild freier Märkte folgend nicht habe machen dürfen, schreibt Noah Smith. Das habe dazu geführt, dass eben vieles so geworden sei, wie es für die Finanzmärkte am schönsten gewesen sei– auf Dauer für eine Gesellschaft nicht tragbar, die das nach etlichen China-Schocks, Industrie- und Finanzkrisen auszubaden hatte.

In den USA zeichne sich inzwischen bereits klar ein Konsens selbst zwischen Demokraten und Republikanern ab, wenn es um diese Art helfend-schützende Aufgabe des Staats gehe, so Smith. In China braucht es so etwas nicht einmal. Ein wirklicher Wechsel in eine neue Zeit. Ein Wechsel, den Deutschland in vielem noch vor sich zu haben scheint – oder bitter zu spüren bekommen droht.

All das ist mit ein paar einfachen Sätzen nicht zu lösen. Dafür braucht es ganz neue Ideen, die oft noch reifen müssen. Woher sollen perfekte Vorlagen für die neue Ära der Industrie- und Klimapolitik kommen, wenn schon der Gedanke daran über Jahrzehnte tabu war? Wann und in welcher Dosierung direkte Subventionen helfen. Wer das entscheidet. Und was der Staat an Infrastruktur wann und wo zur Verfügung stellen muss. Was der Staat regeln muss, um zu viel Abhängigkeit von China zu vermeiden – um die Unternehmen darüber hinaus in Freiheit wirtschaften lassen zu können. Und wie zum Beispiel Preisbremsen gegen die Inflation helfen. Den Test macht gerade Joe Biden. Ergebnis kommt.

Da hilft es nichts, stoisch weiter dem heiligen Markt zu huldigen. Oder ganz wütend jene zu verteufeln, die solch neue Antworten entwickeln.

Auch wenn das Suchen nach solchen etwas komplizierteren wirtschaftspolitischen Grundsätzen und Ausführungen weniger aufregend ist als all das Menschelnde: ob Helikopterflüge von Söhnen, die Wirrungen von Boris Palmer, gelegentliche Stimmungstiefs zwischen Ministern oder Verfehlungen und eine familiäre Verbindung im Ministerium. Nicht dass sich der Grad der Aufregung über das Menschelnde am Ende als gerade deshalb so groß erweist, weil die neue wirtschaftliche Welt so kompliziert ist – und ratlos lässt.

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