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Fabian Fritzsche – Die Mär von den ewig steigenden Staatsschuldenquoten

23. Mai 2013

In praktisch keiner Diskussion zum Thema expansive Fiskalpolitik vs. Austeritätspolitik kommt nicht irgendwann der Hinweis darauf, dass Regierungen sowieso nicht mit Geld umgehen können und die Schulden daher immer steigen, also auch in guten wirtschaftlichen Zeiten nicht zurückgeführt werden – ein Befund, der sich empirisch überhaupt nicht bestätigt.

Selbst wenn, so heißt es, die keynesianische Idee also möglicher Weise theoretisch sinnvoll sein könnte, in schlechten Zeiten die Konjunktur zu beleben, würden alle Politiker anschließend „vergessen“, danach zu konsolidieren und damit wäre eine solche Politik praktisch dann doch nicht sinnvoll. Gerne wird dann noch auf das Beispiel Deutschlands verwiesen, wo der Bund trotz Rekordsteuereinnahmen neue Schulden aufnimmt. Nun werden bei einem solchen Argument gleich verschiedene Dinge durcheinander geworfen. So kann die Bundesregierung zusätzliche Kredite aufnehmen, der öffentliche Sektor insgesamt aber Schulden abbauen. Zudem kann die Gesamtverschuldung durchaus steigen, die Schuldenquote jedoch sinken. Relevant ist eigentlich nur letztere und zumindest die Schuldenquoten der Zentralregierungen (also zumeist ohne Bundesstaaten/-länder, Gemeinden, etc.) sind dank der Arbeit von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff bestens dokumentiert.

Bei aller Berechtigung der jüngsten Kritik an Reinhart/Rogoff bezüglich der vermeintlichen 90%-Schwelle bei Staatsschuldenquoten, kann wohl doch davon ausgegangen werden, dass die teilweise im 17. Jahrhundert beginnenden und bis 2010 reichenden Rohdaten korrekt sind. Um die These von den stets steigenden Staatsschulden zu prüfen, habe ich für 21 Länder[1] für die Nachkriegszeit[2] bis einschließlich 2010 geprüft, in wie viel Jahren die Schuldenquoten gestiegen und in wie viel Jahren sie gefallen sind. Das Ergebnis mutet für viele sicher überraschend an. In 14 der 21 beobachteten Länder sank in der Mehrzahl der Jahre die Schuldenquote, während sie in lediglich sieben Ländern mehrheitlich anstieg. Bei diesen sieben Ländern handelt es sich zudem weitestgehend um Länder, die mit sehr geringen Schulden nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen haben, so dass eine Schuldenreduktion kaum möglich und nötig war. In lediglich neun Staaten lag die Schuldenquote 2010 zudem höher als kurz nach Kriegsende.    

Von stetig steigenden Schuldenquoten kann also auf keinen Fall die Rede sein. Vielmehr zeigen viele der Länder ein ähnliches Muster: Lag die Schuldenquote Ende der 1940er Jahre hoch, gab es in den Jahrzehnten danach bis in die 1970er oder gar frühen 1980er Jahre einen starken Abbau der Schuldenquote, gefolgt von einem Anstieg bis etwa Anfang/Mitte der 90er und danach wieder eine Reduktion bis zum Beginn der Krise 2007/08. Rückblickend betrachtet waren die beiden Perioden mit überwiegend sinkenden Staatsschuldenquoten, also die 50er, 60er und frühen 70er Jahre bis zur ersten Ölkrise als auch die 90er und Nuller-Jahre (bis 2007), wirtschaftlich gute Zeiten mit robustem Wirtschaftswachstum, wachsender Beschäftigung und spürbar steigenden Steuereinnahmen, so dass die Haushaltskonsolidierung im Nachhinein leicht erscheint. Dabei sollte man jedoch beachten, dass in der ersten Phase ein kriegszerstörtes Europa, die Spannungen des Kalten Krieges sowie stark ausgeprägte Staatseingriffe in die Wirtschaft und in der zweiten Phase die rasant voranschreitende Globalisierung mit der zunehmenden Konkurrenz aus Osteuropa und Asien durchaus Zeiten mit großen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen waren. Offenbar wurden jedoch überwiegend die richtigen Weichenstellungen getroffen, die dann zu Wirtschaftswachstum und Schuldenabbau geführt haben.

Der historische Rückblick auf die Staatsschuldenquoten der letzten Jahrzehnte sollte daher nicht nur die Behauptung der immerfort steigenden Schulden als Mär entlarven, sondern auch Hoffnung geben, dass auch in Zukunft ein Abbau zum Teil durchaus hoher Schuldenquoten möglich ist. Und anstatt seit nunmehr vier Jahren immer wieder erfolglos die gleichen Rezepte auszuprobieren, lohnt sicherlich ein Blick zurück auf die Länder, die in der Vergangenheit ihre Staatshaushalte erfolgreich konsolidiert haben. 

 

Beginn der Zeitreihe

anfängliche Schuldenquote

Schuldenquote[3] 2010

Zahl der Jahre mit

 

fallender Quote

steigender Quote

Australien

1946

190.4

11.3

49

15

Belgien

1946

118.3

98.2

37

27

Dänemark

1946

10

40.6

43

21

Deutschland

1951

6.1

44.4

19

40

Finnland

1946

70.6

39.7

34

30

Frankreich

1949

28.6

78.5

23

38

Griechenland

1950

11.3

144

19

41

Großbritannien

1946

237.1

72

45

19

Irland

1946

24.5

54.6

33

31

Italien

1946

44.8

117.5

23

41

Japan

1954

12

189.1

15

41

Kanada

1946

135.9

54.3

38

26

Neuseeland

1946

134

31

43

21

Niederlande

1946

223

67.4

40

24

Norwegen

1946

65

26.5

35

29

Österreich

1948

35.2

61.4

25

37

Portugal

1946

15.6

86.1

28

36

Schweden

1946

47.2

34.8

37

27

Schweiz

1946

74.3

21.5

31

6

Spanien

1946

61.2

48.4

35

29

USA

1946

121.3

89.9

34

30


[1] Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien, Schweiz, USA

[2] Die Daten beginnen überwiegend 1946, so dass die Veränderung der Schuldenquote ab 1947 ermittelt werden kann, für einzelne Länder beginnen die Daten jedoch erst wenige Jahre später.

[3] Die Schuldenquoten nach Reinhart/Rogoff sind nicht 1:1 vergleichbar mit den Zahlen etwa von Eurostat und auch nicht unbedingt untereinander, da überwiegend die Brutto-Verschuldung der „central government“, teilweise aber auch der „general government“ verwendet wurde und in einem Fall (Großbritannien) die Netto-Verschuldung.

  1. Roman Martinu
    27. Mai 2013 um 19:50

    Nur dem beherzten Eingreifen eines Jean-Claude Trichet, der sich über die Bestimmungen hinwegsetzte und den hilflos ausgelieferten EURO-Staaten, quasi als Weisser-Ritter über den teuren Umweg des Sekundärmarktes zu Hilfe kam, indem er die Staatsanleihen aufkaufte, ist es zu verdanken, dass es den EURO noch gibt! Und was macht die Merkel-Regierung? Die Opfer werden zum Täter gemacht, aber nicht genug, man spielt durch das kaputt Sparen jenen in die Hände, die nämlich nicht aus Geldgier den Euro attackierten, sondern weil sie das wahre Potential des Euro erkannt und als Gefahr für sich einstufen! Die Gefahr für die, von jeder weltweiten Wirtschaft entkoppelten und ungeregelten, globalen Finanzmärkte ist, dass der EURO volles Vertrauen, weltweit genießt, ausser von den Eigentümern und bereits über 25% der Weltwährungsreserven und Weltleitreserven sind im EURO angelegt und er ist auf dem besten Wege den Dollar Konkurrenz zu machen und ihn als Welthandelswährung abzulösen! Die großen aufstrebenden Wirtschaftsländer setzen alle ihre Hoffnungen in den Euro, weil sie es satt haben, indirekt den Wohlstand der USA, der nur auf Schulden gestützt ist, zu finanzieren! Die Euro-Regierungen setzen nicht nur falschen Aktionismus und lassen die Ärmsten die Zeche bezahlen und warten auf den Nimmerleinstag an dem die USA und Großbritanien einer Kapitalmarkt-Regulierung zustimmen. Beide Staaten müssten damit bereit sein, den Ast auf dem sie sitzen abzusägen. USA und GB sitzen an einem Roulettetisch und der Groupier ist der globale Finanzmarkt und alle 3 sprengen die Bank! Die USA wäre ohne Finanzmärkten die permanent bereit sind die Staatsanleihen der FED aufzukaufen, um den zügellosen Markt laufend mit Kapital zu versorgen, nämlich, entweder im Staatsbankrott oder ihrem größten Gläubiger China ausgeliefert. Und GB hat als einzige Einnahmequelle seine Finanzinstitute und die verdienen damit kräftig. Der Euro hat nur einen einzigen Geburtsfehler, den Einfluss der deutschen Bundesbank, die durchsetzte, dass die EZB nicht mit allen Kompetenzen ausgestattet wurde. Die Regierungen sind derart realitätsfern, das sie noch immer behaupten Euro-Bonds führen zum Schuldentransfer und haben die Bitte der EZB endlich eigene Anleihen auszugeben und den Artikel 123 zu streichen, abgelehnt. Die FED allein finanziert die Bundesstaaten der USA und jeder ist für seine Schulden selbst zuständig, denn eine Gesamthaftung besteht nach Aussen, aber nicht im Innenverhältnis. Und auch das Argument der erhöhten Zinsen für die „Braven“ könnte man durch eine interne Zinsverrechnung über die EZB ganz einfach regeln und sogar ein Bonussystem für „Ganz Brave“! So betreibt man lieber eine Austeritätspolitik und bezichtigt den Ex-EZB Chef Trichet der Gleichmacherei bei den Staatsschulden und ist Blind dafür, dass sein Agieren wirklich Alternativlos war und die „Zahlmeister“ wahrscheinlich vor einem Millardendisaster bewahrte, denn der Markt hätte diese Euro-Länder weiter in völlig wirkungslose Bürgschaften getrieben bis zum entgültigen Euro-Crash!

  2. Hag Mey
    24. Mai 2013 um 23:24

    Wobei mich die deutsche Schuldenquote von nur 6,1% 1951 verwundert.
    Immerhin vor dem Londoner Abkommen und auf dem wurden ja auch nicht alle Schulden oder gar die Clearings aus der Zeit des WK II bereinigt.

  3. Marcel
    24. Mai 2013 um 21:34

    Und wie sieht es mit den absoluten Schuldenständen aus? Denn ehrlich gesagt, liest man doch häufiger von steigenden Schulden, als von steigenden Schuldenquoten.
    Schließlich sinken die Quoten wenn das BIP stärker wächst als die Verschuldung, was noch nicht gleichbedeutend ist mit einem Schuldenabbau der zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt zurückführt.

  4. John Doe
    24. Mai 2013 um 03:55

    Was steckt hinter der all Überall kolportierten Mär für ein Grund? Eine für Wahr existenzielle Frage!

    Dummheit, die lässt sich leicht durch Bildung beseitigen.

    Schludrigkeit, wäre ein übles Zeichen für eine sich selbst als „wissenschaftlich“ bezeichnende Lehre.

    Absicht, dann werden mit halben Wahrheiten halbe Lügen verbreitet. Was mag das wohl für eine Lehre sein, die mit diesen Mitteln arbeiten muss, um dem eigenen Anspruch gerecht zu werden, den Endpunkt der menschlichen Entwicklung beschreiben zu haben. Soll damit der Lehre aus Satz 2 endlich zum Durchbruch verholfen werden, weil es mit dem omnipotenten, stets souveränen, das Gras wachsen hörenden Markt als Schlüsselelement nicht geklappt hat? Es sich heraus gestellt hat, dass die MARKT-Teilnehmer, z. B. die aus dem Finanz-Markt, den Markt immer wieder hinters Licht geführt haben und sie ein weitere Ausrede für das Versagen der Lehre brauchen?

    Die EU stützt sich auf diese Lehre. Sie behauptet, dass der Staat bei 90 % die Volkswirtschaft irreparabel schädigen würde, obwohl er nur zu einem Fünftel am BSP beteiligt sei. Die Verschuldung privater Haushalte, Finanzindustrie, Unternehmen würde erst jenseits von 160 % des BIP so richtig gefährlich, obwohl sie zu vier Fünftel am BSP beteiligt sind. Eine Petitesse sei es zu dem, dass hier Bestandsdaten mit Flussdaten in Beziehung gesetzt werden. Die Mathematik hätte bewiesen, dass die Ansicht richtig sei!

    Da gibt doch die EU im Januar 2013 zu, dass sie sich bei den Auswirkungen des aufgezwungenen Spardiktates mächtig verrechnet hätte. Der Faktor mit 0,5 sei zu niedrig angesetzt. Er müsse so um die 2 liegen. Das jedem Staat aufgezwungene Spardiktat wurde trotz dieser Erkenntnis aber nicht korrigiert! Mag vielleicht Eitelkeit der Grund sein?

    Basel, die Supranationalbank der Nationalbanken, kommt zum Ergebnis, dass die 160 % barer Unsinn sind. Sie legt für die 3 Sektoren, neben dem Staat, ebenso 90 % und sogar noch weniger fest. Erstaunlich, aber die BIZ-ler kommen aus demselben Stall!
    Richtig bizarr wird es aber, wenn ausgewiesene Wirtschaftsjournalisten unkommentiert die Ansicht der EU übernehmen, obwohl ihnen die Mengenverhältnisse bekannt sein sollten.
    Wie passt das Alles zusammen, wenn doch die Lehre die letztgültige menschliche Erkenntnis sei?

    Vielleicht trifft ja Herr Milleker ins Schwarze, wenn er über den Inhalt der eigenen Profession von „Finanzalchemie“ spricht. Die Gebrüder Skidelsky sprechen sogar „.. Wahn“!

  5. Very Serious Sam
    23. Mai 2013 um 21:11

    „Zudem kann die Gesamtverschuldung durchaus steigen, die Schuldenquote jedoch sinken. Relevant ist eigentlich nur letztere“

    Das ist der fundamentale Irrtum der Volkswirte. Denn die Aussage ist nur und ausschließlich richtig, solange es Wachstum gibt. In schrumpfenden Volkswirtschaften dagegen, und davon gibt es immer mal wieder einige, wird die absolute Schuldenlast schlagartig höchst relevant. fragen Sie z.B. die Griechen.

    Im Grunde ist die Ökonomie seit Keynes et al stehengeblieben. Denn es gibt nicht einen einzigen aus sen seither erlebten Erkenntnnissen entwickelten Ansatz, der zeigt, wie man mit Zeiten negativen Wachstums umgehen soll.

    Und sagen Sie bitte nicht: deficit spending, das wäre denn doch zu lachhaft.

  6. Westos
    23. Mai 2013 um 18:29

    Danke für diese Klarstellung! Herr Fricke, insbesondere hinsichtlich dem Unterschied von Quote und absoluten Betrag der Schulden.

    Um das zu realisieren, müsste man doch noch nicht mal einen Master in VWL haben.

    Aber selbst Abiturienten ist nicht klar, dass wenn das BIP-Wachstum größer dem relativen Anwachsen des Schuldenberges ist, die Schuldenquote kleiner wird.

    Ich finde die starre 3% Regel sollte deshalb revidiert werden, die Neuverschuldung sollte bis 3% erlaubt sein oder bis zur Höhe de nominalen BIP-Wachstums des Vorjahres, je nachdem was höher ist.

    Es kommt öfters vor, das europäische Staaten diesen Wert von 3% Wachstum überschreiten.

    Wenn sie demnächst noch mal das Thema besprechen, weisen sie doch auch darauf hin, dass der Quotient der Schuldenquote nicht das reale BIP als Nenner benutzt, sondern eben das nominale BIP.

    Und das immer gilt, außer in der Deflation: nominales Wachstum ist immer größer als das reelle Wachstum. Deswegen sinkt die Schuldenquote auch im zweifel schneller. Weil der Nenner nun mal schneller größer wird.

    Ich finde so eine Aufklärungsarbeit gehört ins öffentliche Fernsehen, geradewegs ein Telekolleg nicht morgens in den Dritten sondern abends zur besten Sendezeit,
    Einschaltquoten ersetzen eben nicht den Aufklärungsauftrag des öffentlich rechtlichen Fernsehens.
    Und wie beim Lernen muss der Stoff wiederholt werden.

    Dann würden die Leute auch nachvollziehen können, warum bei einem positiven Staatssaldo die absolute und relative Verschuldung steigen kann.

    Warum nicht? Wer, wenn nicht das Fernsehen könnte die Bevölkerung effektiv ökonomisch nach“bilden“.

    Nun gut, ich beschreibe hier wohl das ÖR, wie es in Utopia meiner Vorstellung nach gesendet werden würde 🙂 Schluss mit träumen!

    Danke für ihre aufklärerischen Worte und ihrer korrekten Excelanalyse

  1. 24. Mai 2013 um 17:04
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