Der Befund scheint klar. Was die Bundesregierung so aufführt, hat Potenzial nach oben, ist nicht immer ganz verständlich – und gelegentlich auch mal so und dann wieder so. Wie sollen die sich auch einig sein, wenn eine Partei sich vorgenommen hat, per se irgendwie anders zu sein? Und der Kanzler das mit sich machen lässt.
Was sich erst bei näherem Hinsehen aufdrängt, ist ein tieferes und sehr deutsches Problem: dass das Hin und Her auch die Wirrungen derer spiegelt, die beraten – also Ökonomen und Ökonominnen oder Wirtschaftslobbys. Was da verwirrend wirkt, ist, dass es zum einen zwar eine Menge belastbarer neuer Erkenntnisse darüber gibt, wie sich die großen Probleme unserer Zeit ohne ökonomische Predigten lösen lassen – in Deutschland samt Regierung aber jene noch lautstark poltern, die hartnäckig Dogmen aus der Zeit vor den großen Krisen preisen.
Wie sehr sich die Erkenntnisse der Fachwelt international gewandelt haben, wird im Vergleich über die vergangenen Jahre erst spürbar –
Versuch eines Updates im Schnelldurchlauf.
Von Lohn und Arbeit
Nach alter Lehre galt, dass Löhne sich möglichst frei über Angebot und Nachfrage bestimmen – und es bloß viele Möglichkeiten für flexible, also unsichere Jobs auch zu geringen Löhnen geben sollte. Dass das nicht so gut funktioniert hat, zeigte sich in den vergangenen Jahren fast überall an der fatalen Ausweitung von Billiglohn-Sektoren – und daran, dass so ein Job eben doch in der Regel nicht als Einstieg zu besserer Arbeit taugt. Mittlerweile gilt unter Arbeitsmarktökonomen international als Konsens, dass es dringend Korrektur braucht – weil das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten zu ungleich ist. Dafür hat David Card den Nobelpreis bekommen. Und selbst die Industrieländerorganisation OECD , die in den Neunzigerjahren noch eifrig gegen jede Untergrenze für Lohn und Gehalt einstand, empfiehlt mittlerweile jeder Regierung, einen Mindestlohn zu haben.
Führende Ökonomen wie Dani Rodrik von der Harvard University gehen noch ein Stück weiter und haben ein Konzept entwickelt, wonach es per se darum gehen sollte, »good jobs« zu schaffen, statt irgendwelche. Was in den USA die Biden-Administration als Leitmotiv bereits umzusetzen versucht. Kollege Daron Acemoglu empfiehlt, viel mehr darüber nachzudenken, wie etwa bei Einzug von künstlicher Intelligenz daraufgesetzt werden sollte, nicht die »guten« Jobs zu vernichten. Gesteuerte Innovation, statt unkontrollierter Schocks je nach Geld und Zufall.
Empirisch gesichert ist inzwischen auch, dass ein Großteil der Arbeitslosen nicht durch Druck in Arbeit zu bringen ist (und es auch wirtschaftlich nicht sinnvoll ist) – weil zum Beispiel Lebensumstände oder Bildung nicht passen. Weshalb es mehr auf Einzelbehandlung ankommt. Umso bizarrer wirkt die in diesen Tagen nahezu hippe Empfehlung, es müsse nur das Bürgergeld knapp gehalten werden, um Leute zur Arbeit zu bringen. Ökonomie vom Stammtisch.
Von Gleichheit und Ungleichheit
Vor zehn Jahren veröffentlichten die fünf sogenannten Wirtschaftsweisen ein Gutachten, in dem sie vehement bestritten, dass es in Deutschland ein Problem mit Ungleichheit gebe. Was wiederum zur alten ökonomischen Lehre passte, wonach es solche Ungleichheit ohnehin auf Dauer nicht geben kann – weil es für alle am Ende gut ist, wenn es den Reichen (Liberal-Sprech: Leistungsträgern) besser geht: über den sogenannten Trickle-down-Effekt, wonach aller Wohlstand am Ende auch bei den Ärmsten ankommt.
Mittlerweile formt sich auch hier ein neuer Konsens unter den (wahren) Fachleuten, wonach genau das nicht funktioniert hat. Im Gegenteil: Zwar ist der Abstand zwischen Topeinkommen und anderen seit 2005 nicht größer geworden; nur eben nach dem dramatischen Anstieg zuvor auch nicht wieder kleiner – was nach einem Jahrzehnt Wachstum und deutlich gesunkener Arbeitslosigkeit ein Drama ist.
Noch drastischer ist der Trend bei den Vermögen: Da hat sich der Abstand zwischen den obersten zehn Prozent und der unteren Hälfte seit Anfang der Neunzigerjahre vom Fünfzig- auf das Hundertfache verdoppelt.
Mit Effizienz und ökonomisch begründbarer Verteilung hat das wenig zu tun. Es ist auch Verschwendung von Geld. Auch dazu gibt es international zunehmend Konsens. Neuere Berechnungen lassen vermuten, dass sich an der Verteilung am ehesten etwas ändern ließe, wenn junge Menschen ein Startkapital bekämen.
Von Hyperglobalisierung und Kontrolle
Noch bis Mitte der 2010er-Jahre galt in den USA wie andernorts als oberste Maßgabe: Je mehr globalisiert wird, desto besser. Das Dogma: Freihandel – je ungestörter, desto besser. So ein freier Austausch bringe zwar Brüche mit sich, wenn Industrien in günstigere Gegenden abwandern. Dafür entstehe neuer Wohlstand. Per Saldo ein Gewinn. Hieß es. Tolle Sache.
Der Haken: Richtig glatt lief das nie. Die einen machten – wie Deutschland und China – drastisch Überschüsse, die anderen kamen nicht hinterher. Was sich am drastischsten in den USA und Großbritannien auswirkte, aber auch in Frankreich und einigen Regionen in Deutschland. In den USA führte der China-Schock Anfang der Nullerjahre zum Niedergang des heute sogenannten Rust-Belts um Detroit – ohne dass die massenhaft arbeitslos gewordenen Leute eine Chance hatten, ihr Schicksal noch in die eigene Hand zu nehmen. Den Betreffenden hilft da wenig, dass nach ökonomischem Lehrbuchzauber der Saldo alles in allem doch positiv ist. Fehlschluss.
Forscher wie David Autor fanden später heraus, dass Donald Trump hier 2016 die entscheidenden Stimmen bekam. Genauso wie die Brexiteers in den ehemaligen Industrieregionen im Norden Englands – oder die AfD in verlorenen ostdeutschen Regionen. Begleiteffekte einst gepriesener Hyperglobalisierung (Rodrik).
Der ebenfalls einst gepriesene globale Steuerwettbewerb hat ebenso Absurdes mit sich gebracht – einen teuren Unterbietungswettlauf. Inzwischen reifte auch hier die Einsicht, dass es besser ist, global Mindeststeuern zu vereinbaren.
In den USA gilt das Dogma vom »Free Trade« mittlerweile als tot – es geht nur noch darum, ob die Alternative dazu in der sachten Biden-Variante daherkommt oder in der geopolitisch brisanten Polterversion des Donald Trump. Bei Joe Biden geht es auch darum, strategisch wichtige Produkte wie Chips im eigenen Land herzustellen – um nicht erpressbar, etwa von China, zu sein. Ein recht radikaler Gedankenwandel, der mittlerweile auch in Deutschland angekommen ist – und das geopolitisch naive deutsche Exportmodell wackeln lässt, wonach einfach nur Qualität und Preis zählten.
Von Zurückhaltung und Industriepolitik
Lange galt, dass der Staat nicht besser wissen könne, wohin es wirtschaftlich geht. Was im Grunde nicht ganz falsch ist. Nur ist auch hier die Erkenntnis gereift, dass es noch tückischer sein kann, die Dinge einfach laufen zu lassen. Wenn es um große Innovationen wie die Einführung von Elektromobilität geht, sind Unternehmen auch überfordert. So wie die deutsche Autoindustrie, die viel zu lange alles Mögliche durcheinander geforscht hat – statt Ansagen zur Elektromobilität zu bekommen, die für große Investitionen nötig sind. Bei so bahnbrechenden Innovationen spielten Vorgaben de facto schon immer eine große Rolle, wie die Ökonomin Mariana Mazzucato dargelegt hat, ebenso wie Acemoglu und der frühere IWF -Chefökonom Simon Johnson.
Seither geht es in der modernen Forschung eher darum, wann und wie Regierungen industriepolitisch mitmachen sollten – und Chipfabriken anlocken, um nicht mehr einseitig von Taiwan und damit dem autokratischen China abhängig zu sein. Oder um neue Industrien anzulocken, wenn wie im Saarland absehbar ist, dass in ein paar Jahren die Produktion von Automotoren zu Ende geht und sonst Tausende Leute arbeitslos werden.
Klima retten, aber wie?
Womit wir bei der Frage sind, wie Klimapolitik so geht, dass sie wirkt – ohne die Menschen arm zu machen. Auch hier gab es bis vor einiger Zeit noch eine herrschende alte Lehre: bloß alles teurer werden lassen, was schädlich ist – von Benzinerautos bis zu gasbeheizten Häusern. Und am besten über den Markt. Neuere Forschung lässt zunehmend daran zweifeln, weil so ein Versuch, die Menschen übers Leiden (oder Verbieten) zu verändern, psychologisch nicht sehr aussichtsreich ist, geschweige denn motivierend. Und Märkte zu sehr flattern, statt verlässlich vorhersehbare Kosten zu signalisieren. Und weil gar nicht sicher ist, ob die Firmen dann auch schnell genug umstellen. Wie es besser geht, könnte derzeit US-Präsident Biden vormachen – mit einer Klimapolitik, die stattdessen gnadenlos auf die Subventionierung von Erneuerbaren Energien oder Elektroautos setzt.
Von Schulden und Regeln
Und das liebe (geliehene) Geld? Noch wirkt gerade in Deutschland der gepredigte Vorsatz, wonach immer schlecht ist, wenn der Staat Schulden macht – und gut, dem via Verfassung oder anderen Regeln strenge Grenzen zu setzen. Stichwort Schuldenbremse. Auch hier hat sich die Erkenntniswelt gewandelt – und mehr noch.
In der Praxis haben sich allzu strikte Regeln als eher kontraproduktiv erwiesen. Weil Regierungen dann in Krisenzeiten kopflos zu kürzen beginnen – siehe Ampel –, was meist auf Kosten der am leichtesten zu kürzenden Investitionen geht; und dadurch nicht nur konjunkturell schadet, sondern auch auf Dauer Wirtschaftsleistung verhindert. Womit sich die Austerität am Ende selbst schlägt – weil es ohne Wirtschaftsleistung schwieriger ist, Staatsfinanzen solide zu halten. Und weil es, wie sich in Deutschland jetzt zeigt, doch immer wieder begründbare Sonderfälle gibt – ob Kriege, die Sonderschulden erfordern, oder nahende Klimakrisen, deren Verhinderung halt auch viel öffentliche Investitionen und Geld kosten.
International führende Forscher wie Olivier Blanchard tendieren seither dazu, eher Standards als strikte Regeln zu empfehlen. Am Ende braucht es eben in komplexer Lage doch auch gesunden finanzpolitisch-ökonomischen Verstand, nach Lage der Dinge. Dass die Schuldenbremse nicht ideal ist, schwant mittlerweile selbst Ministerpräsidenten der CDU. Womit sie auf der Höhe der Forschung sind.
Von Zinskeulen und Gaspreisbremsen gegen die Inflation
Auch im Falle steigender Preise schien die Sache früher einfach: Wenn es Inflation gibt, müssen die Zinsen steigen, und verantwortlich ist allein die Zentralbank. Überholt. Nach dem kriegsbedingten Energie- und Inflations-Schock reagierten mindestens so sehr die Regierungen: über Preiskontrollen oder Gaspreisbremsen. Und erste Auswertungen lassen vermuten, dass das auch gut war – und nicht gut, die Zinsen überhaupt so stark anzuheben: weil höhere Zinsen zu langsam wirken – und zudem noch alle möglichen Kredite teurer machen, was wichtige Investitionen bremst und zu den Dramen der Bauwirtschaft gerade stark beiträgt, ohne dass es die Ursachen der (kriegs- und coronabedingten Angebots-)Inflation behebt. Die Forschung dazu kommt von einer jungen Ökonomin wie Isabella Weber – nicht von der alten Garde.
Von Finanzkrisen und Feuerwehren
Was Notenbanker machen oder nicht, auch das hat sich gewandelt – spätestens seit der großen Finanzkrise, als jener Glaube aufflog, wonach Kapitalmärkte mit ihren gigantischen Umsätzen immer effizient sind. Seither reifte die Einsicht, dass die Akteure doch oft zu Exzessen neigen und die Währungshüter in eskalierenden Krisen doch intervenieren müssen: als Retter in letzter Instanz.
Ob Arbeitsmarkttücken, Vermögensgefälle, die Kehrseiten von Globalisierung oder Kontrollverlust und neue Einsichten beim Kampf gegen Inflation und Staatsschulden: Fast überall ist in den vergangenen Jahren der alte Glaube an die Zauberkraft von Geld und Märkten einer sehr viel nüchterneren Suche nach Erkenntnis und besseren Rezepten gewichen. Daraus sind auch eine Menge neuer Ideen entstanden – ob dazu, wie eine gute Industriepolitik oder bessere Klimapolitik aussehen könnten, die nicht den Staat als Allmächtigen bestellt; oder dazu, wie sich das Auseinanderdriften von Vermögen stoppen ließe.
Und so manches davon ist auch in Deutschland angekommen, wo der Wandel länger gedauert hat, ob Mindestlohn oder Zweifel an der Schuldenbremse.
Was irritiert, ist, wie viele es bei uns im Land selbst eineinhalb Jahrzehnte nach dem Urschock der Finanzkrise gibt, die sich gegen all das noch bitter stemmen – und dass darunter welche sind, die just urig unseren Finanzminister beraten oder als Wirtschaftsweise durchgewunken werden. Was nicht heißt, dass es nicht gut ist, wenn Leute auch neuen Trends widersprechen. Solange das dem Erkenntnisfortschritt hilft – und nicht nur denen, die in früheren Zeiten hängenbleiben.
Natürlich gibt es in so einem Wandel Etliches, wo Regierungen Fehler machen – und wo sich Ideen als unreif erweisen. Das liegt in der Natur der Sache, wenn es um die Überwindung tief sitzender Glaubenssätze geht, um gigantische Herausforderungen wie den Klimawandel, eine entglittene Globalisierung oder gagaeske Reichtumsgefälle – und es vor lauter reflexartiger Marktpreisung über Jahrzehnte tabu war, über solche Probleme und Rezepte zu ihrer Überwindung überhaupt nachzudenken. Für vieles davon gibt es halt keine Blaupause: ob dafür, wie Wirtschaft und Leute auf Elektromobilität, Wärmepumpen oder überhaupt Klimaneutralität umstellen; oder dafür, wie sich Populisten über bessere Politik für die Menschen bekämpfen lassen; oder wie eine Globalisierung für alle und unter Einzug künstlicher Intelligenz funktioniert.
Dass da einiges schiefläuft, heißt ja nicht, dass Zeit für Nostalgie ist, wieder zu alten Glaubenssätzen zurückzukehren. Absurd. Es ändert ja an der bitteren Grunddiagnose nichts, dass mit dem technokratischen Liberalismus (Timothy Garton Ash ) der vergangenen Jahrzehnte weder Wohlstand für alle entstanden ist, noch sich die Klimakrise lösen, die Irrungen einer schlecht gemanagten Globalisierung beheben oder zunehmend gefährliche Krisen auf inhärent instabilen Finanzmärkten verhindern lassen.
Es ist nur so, dass die neuen Rezepte eben (noch) in Entwicklung sind. Und dass es dann dringender denn je ist, nach noch besseren zu suchen – statt von solchen zu träumen, die gescheitert sind. Viel zu tun. Spannende Zeit.
Dies ist die letzte meiner Freitags-Kolumnen an dieser Stelle. Weiter geht’s hier: beim Forum New Economy mit meinen Updates via Newsletter und auf LinkedIn