Es gibt ja bekanntlich so einiges, wo wir Deutschen gerade ein wenig hinten dran sind. Bei der Digitalisierung von Amtsschreiben; beim Generieren von Fachkräften, die uns vor lauter Kostensparen abhandengekommen sind; bei der Auslieferung erschwinglicher Elektroautos; oder beim Einhalten von Klimazielen, die wir leider nicht erfüllen können, weil wir ganz dringend die FDP, äh, unsere Schulden stabilisieren müssen. Alles bekannt.
Weniger bekannt ist, dass Deutschland gerade in einer alles in allem noch wichtigeren Disziplin abgehängt zu werden droht – und zwar bei dem Versuch, auf all die Probleme zeitgemäße ökonomische Lösungen zu entwickeln.
Im Gegenteil: Anders als etwa in den USA scheinen bei uns seit Monaten gerade jene wieder lauter zu werden, die auf Rezepte aus alten Zeiten setzen. Da herrschte noch der naive Glaube, dass sich im Grunde alle Probleme am besten lösen lassen, indem der Staat sich heraushält – und die Wirtschaft einfach machen lässt. So wie Ronald Reagan das einmal in den USA ausgegeben hatte – und mit leichter Verspätung Gerhard Schröder via Agenda 2010 dann umzusetzen versuchte.
Nur dass in den vergangenen 15 Jahren so einiges passiert ist, was an der Heilslehre zweifeln lässt – ob krachende Finanzkrisen oder andere Desaster, bei denen schnell klar wurde, dass der Staat der Wirtschaft helfen muss. Und dass es heute um Probleme geht, bei denen die Losung nicht ganz so gut zu funktionieren scheint – ob Klimawandel, Pandemie und Kriegsinflation, oder die Krise der marktbelassenen Globalisierung, oder das Auseinanderdriften zwischen Reich und Arm. Andere Länder zählen deshalb heute auf modernere Ökonomie statt auf das (sehr deutsche) Predigen ordoliberaler Prinzipien.
Für eine gewisse Zeit schien auch in Deutschland der religiöse Eifer schon geschwunden,
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als mit der Finanzkrise klar wurde, dass die Märkte eben auch mal zu Katastrophen neigen;
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als sich herausstellte, dass Mindestlöhne entgegen der Prophezeiung der Marktgläubigen doch keine Katastrophe sind;
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oder als beim Corona- wie im kriegsbedingten Inflationsschock klar wurde, dass es ohne staatliche Rettung nicht ging – in der Welt des weisen Marktes nicht vorgesehen.
Immer die alte Leier: Kosten runter
Seit Kurzem scheint in Deutschland die Saga um sich zu greifen, wonach all das nur Ausnahme gewesen sei – und Zeit sei, zum Markt-Mantra zurückzukehren. Klimawandel? Am besten über Markt und CO2-Bepreisung beheben. Abhängigkeit von Russland oder China? Am besten über mehr Freihandel lösen. Industriepolitik? Braucht die Wirtschaft nicht. Stattdessen mal wieder Angebotspolitik, getreu dem alten Motto: gutes für die Wirtschaft zu tun, ist immer gut für alle. Überdies sei unsere beklagenswerte Wirtschaft dringend wettbewerbsfähig zu machen – als sei das bei jährlich neuen gigantischen Exportüberschüssen unser größtes Problem. Als Rezept die alte Leier: Kosten runter, mit Verzicht, billig aus der Krise.
All das war schon zu Schröders Zeiten weniger überzeugend, als es damals gehandelt wurde. Im Jahr 2023 wirkt es geradezu bizarr.
Es hat etwas erschreckend Naives, den Klimawandel durch die Bepreisung von CO2 stoppen zu wollen. Da hilft auch stete Wiederholung nicht. Das ist politisch gar nicht durchzuhalten. Und es würde auch viel zu lange dauern, erst genug Schmerzen zu erzeugen, damit Betriebe wie Haushalte dann irgendwann auf Klimaneutralität umstellen – ohnehin absurd, solange es keine Ladeinfrastruktur und keine günstigen Elektroautos gibt.
Der Markt ist nicht die Lösung. Der Markt ist das Problem.
Nicht weniger naiv ist der Glaube, es könne gelingen, uns vor chinesisch-staatswirtschaftlich gelenktem Machtstreben durch ein bisschen Diversifizierung zu schützen. Ohne dabei bewusst Fabriken mit Milliarden anzuwerben, die dazu beitragen, dass wir nicht mehr so atemberaubend einseitig von Halbleitern aus China oder Taiwan abhängen, die wir nun einmal für Autos, Kühlschränke, Handys und alles Mögliche benötigen. Dass wir da ein Abhängigkeitsproblem haben, ist ja nicht auf hiesige Industriepolitik zurückzuführen, sondern das Ergebnis einer naiv marktüberlassenen Globalisierung – die von den Chinesen ausgenutzt wird. So etwas ist politisch, das können wir nicht Firmen überlassen.
Zu den großen Desastern der marktliberalen Ära zählt auch, dass jenes Trickle-Down ausgeblieben ist, das die Prediger der Reaganomics auch bei uns mal vorgegaukelt haben: dass Wertschöpfung früher oder später immer auch bei den Ärmeren ankommt. Von wegen. In Wahrheit sind Einkommen und Vermögen in den USA wie in Großbritannien und selbst bei uns so unfassbar auseinandergedriftet, dass es ganz offenbar maßgeblich zum Unmut der Menschen und zur Krise der liberalen Demokratien beigetragen hat. Auch da wirkt grotesk, jetzt mal wieder nach dem Markt zu rufen. Der Markt ist nicht die Lösung. Der Markt ist das Problem. Jedenfalls auch hier.
Das neue Leitmotiv: strategische Zusammenarbeit
Und da braucht es eine Politik, die viel stärker dafür sorgt, dass gut bezahlte Arbeit entsteht – statt einer, die über immer neue Deregulierung de facto für immer mehr prekäre Jobs sorgt.
Wer eine Ahnung davon bekommen will, was vergleichsweise moderne Wirtschaftspolitik ist, kann das derzeit in regelmäßigen Abständen bei Joe Biden und seinen Leuten tun, die das erklären. Schlagwort: Modern American Industrial Strategy; oder Bidenomics; oder moderne Angebotspolitik , wie es US-Finanzminsterin Janet Yellen als neues Label geprägt hat.
Da geht es nicht darum zu verteufeln, was Wirtschaft und Märkte per se können. Der Markt ist in aller Regel perfekt darin, im Wettbewerb neue Produkte zu entwickeln, die günstigsten Lösungen zu finden, so Heather Bouchey , Chefin des Council of Economic Advisors im Weißen Haus. Und es sei auch nicht beabsichtigt, den Privatsektor zu ersetzen. Das neue Leitmotiv sei, mit der Wirtschaft in strategisch wichtigen Dingen zusammenzuarbeiten.
Da geht es um öffentliche Investitionen in entscheidende Infrastruktur, die in der alten Zeit bei uns wie in den USA ziemlich verkommen ist (Gruß an die Deutsche Bahn). Oder um die Subventionierung strategisch wichtiger Industrien, um unabhängiger von Chinas Machtstreben zu werden – und schneller klimaneutral zu wirtschaften. Und da geht es darum, gute Jobs zu fördern, indem es den Leuten einfacher gemacht wird, Gewerkschaften beizutreten.
Umso erschreckender wirkt, was gerade in Deutschland mit dem Segen früheren Denkens regierungsamtlich praktiziert wird: etwa ein heilloses Kürzen von Ausgaben für Digitalisierung oder Bildung , weil die Regierung es offenbar für wichtiger hält, die ohnehin im internationalen Vergleich nicht sonderlich hohen Staatsschulden abzubauen, statt in die Zukunft zu investieren. Dabei könnten die Unternehmen über wirklich reizvolle Prämien zum Investieren in Klima, Digitalisierung und anderes bewegt werden, wie das in den USA gerade passiert.
Zeitgemäße Lösungen
Die trotzige Ablehnung von allem, was irgendwie nach öffentlicher Industriepolitik aussieht, wirkt in der heutigen Welt befremdlich. Und das passt nicht zur wachsenden Forschung dazu, wie erfolgreich so eine Strategie für die Wirtschaft sein kann. Harvard-Ökonom Dani Rodrik hat genau dazu gerade eine eindrucksvolle Studie geschrieben – Titel: »The New Economics of Industrial Policy«.
Es gibt auch bei uns mittlerweile etliche Denker, die auf Modernisierungskurs sind, keine Frage. Nirgendwo sonst scheint aber das Alte noch so ideologisch eindimensional präsent wie hier. Als sei die Zeit stehen geblieben. Höchste Zeit, Deutschland zu modernisieren. Nicht nur beim Digitalisieren von Ämtern und beim Verkauf von Elektroautos, sondern auch bei der Suche nach zeitgemäßen Lösungen für Klimawandel, Globalisierungs- und Demokratiekrisen.