Ein Jahr ist es her, da meldeten Statistiker eine Teuerung von astronomisch wirkenden zehn Prozent – und die Welle schien kein Ende zu nehmen. Weshalb so mancher die Inflation schon »gekommen« sah, »um zu bleiben«, auf viele Jahre – und die Notenbanker hastig zu möglichst radikalen Zinserhöhungen drängten. Weil das Monster sonst angeblich nicht zu stoppen sei.
Nun melden die Ämter, dass die Inflation deutlicher als von den meisten erwartet sinkt . In der Eurozone stand im gerade abgelaufenen Oktober sogar erstmals die Zwei wieder vor dem Komma – von zehn auf weniger als drei in zwölf Monaten: eine beeindruckende Entspannung. Und vor allem ein Trend, der all jene zu widerlegen scheint, die das Hochschnellen der Preise womöglich voreilig als epochales Phänomen deuteten – und kein Ende sahen. Eine womöglich folgenschwere Fehldiagnose.
Noch hallen die düsteren Vorhersagen nach. Von Fondsmanagern, die dauerhaft drei bis vier Prozent Inflation sehen. Oder von Christian Lindners »Ghost Economist«, der im März erklärte, warum die Inflation in den USA wie bei uns so hartnäckig bleibe – und das mit grundlegend zu laxen Regierungen und Notenbankern zu tun hat. Kurz darauf begann die Teuerung zu sinken.
In Supermärkten ist es seit Wochen schick, mit sinkenden Preisen zu werben
Jetzt sind auch die jüngsten Zahlen noch keine Garantie, dass es nie wieder so hohe Inflationsraten gibt. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass der nächste Ölpreisschock kommt, wenn die Lage im Nahen Osten eskaliert. Auch werden die Preise hier und da noch einmal hochgehen, sollten Gaspreisbremsen und ähnliche staatliche Hilfen zu früh auslaufen (besser noch einmal verlängern).
Von einem epochal hartnäckigen Teuerungstrend kann nur längst keine Rede mehr sein. Im Schnitt der vergangenen vier Monate legten die Verbraucherpreise in Deutschland um monatlich weniger als 0,2 Prozent zu. Die Erzeugerpreise lagen im September fast 15 Prozent unter Vorjahr, die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse um immerhin gut fünf Prozent. In Supermärkten ist es seit Wochen schick, mit sinkenden Preisen zu werben (auch wenn das nicht immer ganz der Wahrheit entspricht).
Das wird auch nicht schlimmer durch den Hinweis darauf, dass die Kernteuerung noch hoch sei. Dass sich das Durchreichen höherer Preise durch die Lieferketten zieht, ist an sich nicht ungewöhnlich – und noch kein Grund zur Panik. Wenn man Energieprodukte außen vor lässt, gibt es in der Industrie ohnehin mittlerweile keinen großen Preisdruck mehr: Die (Kern-)Inflation liegt gegenüber dem Vorjahr hier bei gerade noch 0,8 Prozent.
Jetzt könnte sein, dass all das nur (vorläufig) so gut läuft, weil die Notenbanker am Ende doch den Panikmachern gefolgt sind – und ihre Zinsen (angeblich zu) spät, aber dann drastisch angehoben haben. Und das dann auch weiter tun sollten. Was wiederum die Urthese bestätigen würde, dass in der Laxheit das große Übel lag.
Plausibel? Wenn höhere Zinsen gegen Inflation helfen, dann nach Lehrbuch entweder, indem sie die Konjunktur dämpfen oder die Wirtschaft gar in eine Rezession mit hoher Arbeitslosigkeit stürzen – und so dafür sorgen, dass sich Unternehmer nicht mehr trauen, die Preise anzuheben und Arbeitnehmer nach mehr Geld zu verlangen. Was nach aller Erfahrung ein Jahr oder mehr dauert, bis es überhaupt zu wirken beginnt – und zu entsprechend sinkender Inflation führt. Oder darüber, dass schon die Ankündigung höherer Zinsen reicht, um derlei Enthaltsamkeit in vorauseilendem Gehorsam zu erzeugen. Erwartungsmanagement.
Nur: Weder in den USA noch in Europa ist die Arbeitslosigkeit stark gestiegen. Und zumindest in den USA hat es alles, nur keine Rezession gegeben. In Deutschland erreichte die Beschäftigung in diesem September einen Rekord, wie aus den neuen Arbeitsmarktdaten der Bundesagentur hervorgeht. Eine geldpolitisch induzierte Rezession zum Brechen von Inflation sieht anders aus.
Gegen die These, dass (nur) die Notenbanken für ein Nachlassen der (hartnäckigen) Inflation gesorgt haben, spricht ohnehin, dass die Teuerung schon seit dem Hoch im Herbst 2022 kontinuierlich wieder sank. Da hatte die Europäische Zentralbank gerade erst angefangen, die Zinsen stark anzuheben. So schnell kann das nicht gewirkt haben – es sei denn darüber, dass alle sofort dachten: Gut, dass jetzt die EZB da ist, dann wird es ja auch keine Inflation geben. Siehe oben. Eher unwahrscheinlich.
Nach Umfragen der Notenbank schnellten die Inflationssorgen der Menschen im Oktober 2022 erneut hoch – obwohl die EZB da schon mit Getöse auf Kampf umgeschaltet hatte. Und die Erwartungen gingen danach zurück – auffällig parallel zu den faktischen Inflationsmeldungen und dem Rückgang sensibler Preise etwa für Benzin. Einer Studie aus dem Hause der EZB zufolge ist ohnehin zu bezweifeln, dass Unternehmen wie Privathaushalte einen besonders guten Riecher für die künftige Inflation haben. Wer weiß das schon so genau. Da wird oft das erwartet, was ohnehin schon ist.
All das scheint eher jene zu bestätigen, die zweifelten, dass hinter dem gruseligen Inflationsschub ein Dauerphänomen steckt – und die Preisschübe stattdessen vor allem mit dem zu begründen versuchten, was naheliegt: dass hier ein furchtbarer Mix wirkte aus dramatisch hochschnellenden Rohstoffpreisen vor und nach Ausbruch des Ukrainekriegs und den Nachwehen der Coronazeit; in der global Lieferketten brachen und viele Produkte nicht mehr lieferbar waren – vor allem ein Angebotsschock, der zu vorübergehend stark steigenden Preisen führte. Dazu noch Einzelphänomene wie die stark steigenden Reisekosten, als die Leute nach den Lockdowns alle wieder verreisen wollten.
All das hat seit den Hochs vor einem Jahr deutlich nachgelassen: Es gibt kaum noch große Engpässe für die Industrie, die Frachtraten sanken, ebenso wie die Preise für Gas und Öl. Was, siehe da, eben auch die Inflation wieder hat sinken lassen. Da braucht es keine große Umdeutung oder Rundumkritik an fatal laxen Notenbanken und Regierungen.
Wenn etwas tatsächlich unterschätzt wurde, dann vor allem eins: wie sehr mancher Anbieter die extreme Lage zwischen Pandemie und Krieg und Energieschocks genutzt zu haben scheint, um Preise anzuheben und Gewinne aufzubessern – etwa, weil Verbraucher in so einer akuten Krise so schnell keine Alternative hatten, es leichter ist, Preise anzuheben, wenn das gerade alle tun, und der Wettbewerb nicht wie üblich (preis-)dämpfend wirken kann. Eine Erklärung, wie sie die deutsch-amerikanische Ökonomin Isabella Weber in den vergangenen Monaten etabliert hat – und die mittlerweile international zum Standard geworden ist.
Wenn das stimmt, lässt sich erklären, warum die Inflation 2022 tatsächlich nicht genauso schnell wieder verschwand, wie es Optimisten vermutet hatten – und wie es der Rückgang der Preise für Gas oder Öl im Herbst vor einem Jahr hätte erwarten lassen. Als der Energieschock nachließ, begann die Verkäufer-Inflation erst nachzuwirken. Und warum die Inflation trotzdem nicht so hartnäckig ist, wie es die düsteren Vorhersagen jener zwischenzeitlich vermuten ließen, die deshalb die Notenbanker zu anhaltend hohen Zinsen drängten.
Dann könnte genau das bald fatal wirken – weil die hohen Zinsen jetzt zunehmend wirken, Kredite teurer werden und die Rezessionsgefahr steigt. Obwohl die Inflation längst nachgelassen hat.
Es spricht viel dafür, dass die Teuerung nicht wieder so extrem niedrig sein wird, wie es mal der Fall war, als die Raten gegen null tendierten. Es ist ja auch nicht schlecht, wenn über höhere Einkommen Teile des Kaufkraftschocks noch ausgeglichen werden – und auch sonst nicht mehr so viel über Billigkonkurrenz gewirtschaftet wird.
Es spricht nur mittlerweile mindestens so viel dafür, dass jene Inflation, die 2022 alle schockiert hat, doch nicht kam, um zu bleiben.