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David Milleker: Zehn Jahre nach Lehman

3. September 2018

Am 15. September 2008 ging die Investment Bank Lehman pleite. Zehn Jahre danach ist die Wirtschaftswelt eine deutlich andere geworden. Betrachten wir dazu drei Entwicklungen:

Erstens: Die Auffassung, was heute als „gutes Wirtschaftswachstum“ angesehen wird, hat sich geändert. So gelten die USA als wirtschaftliches Musterbeispiel, weil sie im Schnitt nach der Weltfinanzkrise pro Jahr ununterbrochen mit knapp über 2% gewachsen sind. Erinnert sich noch jemand an die 1990er Jahre, wo über ein Wachstumspotenzial von 3,5% wenn nicht sogar 4% geredet wurde. Über Europa, das zwischenzeitlich auch noch die Euro-Krise verdauen musste, und zur Jahrtausendwende auch einmal Ambitionen hatte, die dynamischste Wirtschaftsregion der Welt zu werden, sollte man da am besten gar nicht reden.

Zweitens: Die Bilanzen der jeweiligen Zentralbanken sind deutlich gewachsen. Auch hier sind die USA vermutlich am weitesten fortgeschritten, da die US-Notenbank sogar angefangen hat, ihr Wertpapierportfolio abzubauen. Die Europäische Zentralbank möchte zum Jahresende ihre Wertpapierkäufe zumindest einstellen, während die Japaner gerade verkündet haben, diese seien noch eine ganze Weile nötig. Die Kehrseite der deutlich erhöhten Zentralbankbilanzen ist jedoch ein wenig beachteter Faktor. Seit dem Lehman-Kollaps ist etwas abhandengekommen, was man vorher durchaus als „funktionierende Infrastruktur“ vorausgesetzt hatte: der Interbankenmarkt. Hier werden Liquiditätsüberschüsse und -defizite zwischen den Banken ausgeglichen. Lag das Volumen dieses Marktes vor Lehman im Euro-Raum noch bei 40 Mrd. Euro, sind es heute gerade noch 3 bis 4 Mrd. Euro. Sprich der Markt ist um 90% zusammengeschrumpft. In den USA sieht das Bild ähnlich aus. Eine vollkommen offene Frage ist, ob dies Reaktion auf die gewachsenen Zentralbankbilanzen ist (niemand braucht mehr Interbankendarlehen, weil alle in Zentralbankgeld schwimmen) oder die Zentralbanken einfach zur zentralen Gegenpartei geworden sind, weil es allen lieber ist, Geldmarktgeschäfte mit dieser als mit anderen Geschäftsbanken abzuwickeln. Die Tatsache, dass die US-Notenbank bereits ganz am Anfang ihres Bilanzabbauprozesses mit überproportional steigenden Geldmarktzinsen (relativ zum Leitzins) konfrontiert wird, deutet eher auf letzteres hin. Was wiederum darauf hindeutet, dass die Zentralbanken faktisch gezwungen sein werden, die in der Krise aufgebauten großen Wertpapierportfolios auf Dauer zu halten.

Drittens: Die Bankensysteme sind grundsätzlich viel nationaler geworden. Das hat zum einen regulatorische Gründe. Früher war es üblich, dass Auslandstöchter nicht etwa der Einlagensicherung des Gastlandes, sondern der des Landes der Mutter unterlagen. So etwa im Falle der isländischen Banken. Heute wird dagegen gefordert, dass Banken grundsätzlich in jedem Land der jeweiligen Einlagensicherung unterliegen. Am auffälligsten ist jedoch andererseits, dass die grenzüberschreitenden Geschäfte deutlich eingeschränkt worden sind. Das gilt gerade innerhalb des Euro-Raums, wo sich das Volumen von grenzüberschreitenden Krediten von rund 2 Billionen auf 1,25 Billionen fast halbiert hat. Dabei ist diese Entwicklung gerade hier aufgrund des Binnenmarktes sowie des Nexus zwischen Staaten und Finanzsektor eigentlich geradezu unerwünscht.

Nimmt man all diese Entwicklungen zusammen, so hat sich die Welt seit 2008 geradezu dramatisch verändert. Sowohl an der Oberfläche wie auch in der grundlegenden Funktionsweise. Dass dies überhaupt erwähnt werden muss, zeigt deutlich, wie schnell sich Menschen an neue Realitäten gewöhnen.