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Thomas Fricke: Lehman Brothers und die Finanzkrise – Die Großmutter aller Probleme

15. September 2018

Ohne den Crash der Investmentbank Lehman vor zehn Jahren gäbe es keinen Aufstieg der AfD. Zeit für ein neues Glaubensmodell der Finanzwelt.

Unser Innenminister hat kürzlich auf außerordentlich poetische Art zu formulieren versucht, was uns allen am meisten Sorge zu bereiten habe. Die Migrationsfrage sei die Mutter aller Probleme, sagte Horst Seehofer (CSU). Welches Land kann von sich sagen, so einen liebevollen Minister zu haben. Dichter und Denker, klar.

Wenn unsere Zukunft bedroht ist, dann weniger vom Islam und von Kriegsflüchtlingen, als vielmehr davon, dass wir aus jener Mutter aller Finanzkrisen so relativ wenig gelernt haben, die uns fast auf den Tag genau vor zehn Jahren ereilt und schon damals beinahe um unseren Wohlstand gebracht hat. Wenn das stimmt, könnte hier die Muttermutter aller Probleme liegen. Die Großmutter aller unserer künftigen Sorgen sozusagen.

Zehn Jahre ist es an diesem Samstag her, dass der damalige US-Finanzminister ein Zeichen setzen wollte – und einer der größten Investmentbanken jede Nothilfe verweigerte, die sie inmitten wachsender Finanzturbulenzen noch vor der Pleite hätte retten können. Damit nicht irgendwann alle kommen und Geld haben wollen. Gut gemeint. Nur nicht wirklich gut ausgegangen.

Die Pleite besagter Lehman Brothers löste in den ohnehin wackelnden Finanzhäusern der Welt binnen Stunden eine derartige Panik aus, dass plötzlich niemand mehr irgendwem Geld leihen wollte – und die Welt des großen Kapitals im Herbst 2008 kurz vor dem Kollaps stand, vor einer verheerenden Kettenreaktion mit immer neuen Pleiten und dramatischen wirtschaftlichen Folgen. Ähnlich wie in den Dreißigerjahren, als dieses Verhalten in Amerika zu einer verheerenden wirtschaftlichen Depression führte. Und in Deutschland, verstärkt durch die menschlichen Folgen heilloser Austerität, zur Machtergreifung der Nazis. Und zum Weltkrieg.

Gemessen daran wirkt die Bilanz der Finanzkrise 2008 nach zehn Jahren ziemlich glimpflich. Die Kettenreaktion wurde gestoppt, es folgten seither weder Depression noch Massenarbeitslosigkeit. Nur könnte darin eine ganz andere Tücke liegen: Weil die Panik bei den Bankern so schnell verflogen ist, scheint jener Urglaube der vergangenen Jahrzehnte erstaunlich unerschüttert geblieben, wonach Banken und Finanzmärkte jenseits solch unglücklicher Zwischenfälle nach wie vor geeignet sind, über alles Mögliche in unserem Leben zu urteilen – und zu spekulieren. Und wonach es einfach hier und da ein paar Regelchen braucht. Punkt. Anders als nach dem wirklichen Desaster nach 1929, auf das irgendwann ein großer Neuanfang folgte – mit enorm geschrumpfter Finanzszene und wenig verbleibenden Spekulationsmöglichkeiten.

Für ein paar Wochen sah es auch im Herbst 2008 so aus, als würde sich die Katastrophe der Jahre nach 1929 wiederholen. Deutsche Exporteure meldeten plötzlich dramatische Auftragseinbrüche. Dass der Kollaps trotzdem ausblieb, hatte womöglich stark damit zu tun, dass die US-Notenbank von jemandem geführt wurde, der selber als Wissenschaftler lange studiert hatte, was in den Dreißigerjahren schiefgelaufen war. Anders als mancher deutsche und Euro-Notenbanker, die noch Wochen über ordnungspolitische Grundsätze sinnierten und zögerten und die Lage falsch einschätzten – mit fatalen Folgen.

Die US-Notenbank schaltete unter dem Wirtschaftshistoriker Ben Bernanke sofort auf Contra, brachte viel Geld ins System – jenes Geld, das plötzlich keiner mehr verleihen wollte, und das trotzdem nicht fehlen durfte, um die Wirtschaft zu finanzieren.

Auch die Regierenden schienen in den USA wie Großbritannien die Lehren aus den Dreißigerjahren zu ziehen – und, statt heillos zu kürzen, Geld an die Leute zu bringen, um die Abwärtsspirale zu stoppen. Mit etlichen Milliarden. Selbst in Deutschland, wo auch diese Erkenntnis ein paar atemberaubende Wochen brauchte und die Weltenrettung den etwas irreführenden Namen Abwrackprämie erhielt.

Schon im Frühjahr 2009 begannen die konjunkturellen Frühindikatoren auf Stabilisierung hinzudeuten. Seither wächst die Wirtschaft in den USA wie in Deutschland fast ununterbrochen, und die Arbeitslosigkeit ist stark gefallen.

Was hätte passieren können, wenn Währungshüter und Regierende länger gezögert hätten, haben kurz darauf die Griechen erlebt – eine Art Lehman in Länderausführung. Auch dort drohte die Panikspirale. Nur dass die deutsche Kanzlerin und ihr leicht überforderter Finanzminister Wolfgang Schäuble über Monate die Zuchtmeister zu spielen meinten, Hilfen erst freigaben, als tatsächlich ein neuer Bankenkollaps drohte – und unbekümmert Austerität empfahlen. Huch: Depression. Na, so was.

Die Ironie der Geschichte: weil unser Gehirn nicht so gut dafür geeignet ist, uns spüren zu lassen, was hätte passieren können, aber nicht passiert ist, hat das großartige Verhindern einer Depression (außer in Griechenland) in den Jahren 2008 und 2009 dazu beigetragen, dass irgendwann nicht mehr so wichtig schien, was die Krise verursacht hat – und die nächste wieder verursachen könnte.

Klar wurden seit dem Lehman-Schock eine Menge neue Regeln beschlossen, müssen Banker jetzt lange Formulare ausfüllen und Finanzhäuser auch (etwas) mehr Geld beiseitelegen für Notfälle. Der Kern des Problems scheint allerdings ein viel grundsätzlicherer. Und der liegt weniger in den moralischen Unzulässigkeiten des einen oder anderen Hedgefonds-Managers (oder Griechen), sondern in dem ungeahnt fatalen Hang von Finanzjongleuren und gemeinen Sofa-Anlegern, sich vor lauter kollektiver Euphorie gelegentlich in irre Höhenflüge zu steigern, die urplötzlich enden – und dann in Abwärtstrends verwandeln, die sich ebenso irre verselbstständigen und ganze Volkswirtschaften wackeln lassen. Da hilft es dann auch nicht mehr, wenn der Bankmitarbeiter bei der Beratung ein paar Formulare mehr ausfüllt.

Wie schnell so was geht, kann ganz frisch Herr Erdogan erzählen. Oder der Präsident von Argentinien. Oder Italiens neue Regierung. Alles Leute, die gerade damit zu tun haben, dass sich einst begeisterungsfähige Finanzleute, wenn sie mal hibbelig geworden sind, schnell über alle Geldberge machen – was für Millionen Menschen in den Ländern heißt, dass etwa bei einem abstürzenden Wechselkurs plötzlich alles teurer wird und gewählte Regierungen Rentnern Geld streichen oder Steuern anheben, um bloß die werten Finanzmanager oder Anleger zu beruhigen, bevor diese zum Sundowner auf den Golfplatz wechseln.

Rechte Tyrannen und Volksverführer als Profiteure

So richtig plausibel erklären lässt sich ökonomisch oft nicht, warum erst alle die entsprechenden Staatspapiere kaufen, dann plötzlich keiner mehr. Das liegt oft eher daran, dass jeder zur Sicherheit das zu machen versucht, was die anderen machen. The Trend is your friend. Oder was sie glauben, was die anderen machen, die gleich auf der Terrasse sitzen.

Noch dramatischer wirkt ein weiteres Phänomen, das vor lauter Erfolg des akuten Krisenmanagements außer Acht geriet: dass es nicht nur um die Finanzen geht. Jede große Finanzkrise ist auch Symptom und Ergebnis sehr viel tieferer gesellschaftlicher Dramen. Wenn Finanzmärkte krachen,

  • dann meist deshalb, weil es in der (Blasen-)Zeit davor für Leute mit tendenziell ohnehin schon viel Geld enorme Gewinne zu machen gab; was das Reichtumsgefälle drastisch hat steigen lassen, so wie das auch vor dem Crash 1929 in den goldenen Zwanzigerjahren der Fall war;
  • hat es vorher meist eine Zeit starker Verselbstständigung der Finanzsphäregegeben, erleichtert durch viel Deregulierung, was wiederum den Eindruck hat entstehen lassen, dass gewählte Politiker ohnehin immer weniger zu sagen haben – im Glauben an die Weisheit der Märkte;
  • sehen Politiker rasch wie Lakaien aus, wenn sie (scheinbar) gegen jeden Verstand plötzlich milliardenschwere Banken mitsamt ihren stark überbezahlten Manager retten müssen;
  • folgen zur Finanzierung der Schäden solcher Krisen oft Kürzungen und höhere Steuern für Leute, die nicht mal wissen, was Derivate sind;
  • bleibt bei den Leuten der Eindruck hängen, irgendwie die Kontrolle darüber zu verlieren, was sie sich aufgebaut haben;
  • und wackelt früher oder später eben doch das Urvertrauen ins herrschende Wirken – ins System, wie die Wütenden sagen.

Klingt alles irgendwie vertraut: aus den derzeit gängigen Analysen dazu, was den Unmut so vieler besorgter bis wütender Menschen in diesen Tagen ausmacht. Zehn Jahre nach dem Lehman-Crash. Kein Zufall. Womöglich gewinnen gerade in jenen westlichen Industrieländern derzeit rechte Tyrannen und Volksverführer an Sympathien, die von der Banken- und Finanzkrise getroffen wurden – und zuerst dort, wo davor die größten Finanzmarktfans wirkten. Ob im Königreich der spinnerten Brexit-Gaukler. Oder beim allerbesten Präsidenten, den die USA und das ganze Universum je hatten.

Die Abfolge scheint kein Zufall zu sein: nach Auswertung von Dutzenden Bankenkrisen aus den vergangenen 150 Jahren kamen Ökonomen um den Bonner Wirtschaftshistoriker Moritz Schularick vor einiger Zeit schon zu dem Ergebnis, dass fast immer ein paar Jahre nach solchen Krisen rechte Parteien enormen Zulauf bekommen. Was sich derzeit fast monatlich zu bewahrheiten scheint. Nur dass die Rechten heute nicht auf die Banken schimpfen, sondern – typisch – auf irgendwelche Sündenböcke. Und da hat jeder so seinen eigenen: der wütende Ami die Mexikaner, der wütende Italiener die Deutschen – und die wütenden Deutschen den Griechen. Und natürlich alle den Islam. Obwohl der mit dem Finanzdesaster nun wirklich nichts zu tun hat.

Höchste Zeit für ein neues Glaubensmodell

Womit wir wieder bei unserem Innenminister sind. Nur dass die Mutter aller Probleme eben doch nicht die Migrationsfrage ist. Es spricht eine Menge dafür, dass es ohne Bankenkrise samt all der Vorgeschichten und Begleitdramen heute nur halb so viele Wutbürger und Populisten gäbe – ob in Deutschland, in Großbritannien oder den USA. Und keinen Innenminister Horst Seehofer, der über die Mutter aller Probleme schnappsinniert.

Dann sollte die Mutter aller unserer Sorgen schon eher sein: wann uns der nächste Finanzcrash ereilt. Und ob wir dann noch mal so gut davonkommen.

Es wird höchste Zeit, zumindest im zweiten Jahrzehnt nach dem Lehman-Crash ein neues Glaubensmodell zu entwickeln – jenseits vom immer noch naiven Glauben in die stete Weisheit der Finanzwelt.

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Die Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).