Deutschland hat zu Beginn des Jahres 2024 so viel Beschäftigung wie nie zuvor, die große Inflationswelle ist vorüber, die Wirtschaft im abgelaufenen Jahr entgegen allen Befürchtungen kaum geschrumpft. Auch die Deindustrialisierung ist bisher ausgeblieben. Das Land hat eine Jahrhundertpandemie überstanden, die befürchtete Gasmangellage verhindert, ist heute weniger abhängig von russischer Energie. Sogar der CO₂-Ausstoß ist gesunken.
Hätte alles schlimmer kommen können. Und doch scheint im Land keine, sagen wir, Erleichterung spürbar. Vorsichtig ausgedrückt. Und das gilt nicht nur für Bauern und Lokführer. Was selbst gemäßigte Zeitgenossen gerade zu erfassen scheint, ist eine diffuse Welle verbitterter Generalempörung, die das Grundvertrauen in vieles erschüttert, was die Gesellschaft zum Funktionieren braucht. Was die dringliche Frage aufwirft, woher die Wut wirklich kommt. Und was dagegen hilft.
Eher platt bis politisch durchsichtig wirken dabei Versuche, die ganze Schuld der traurigen Ampelregierung zu geben. Was nicht heißt, dass die unglückliche Koalition der Unvereinbaren dazu beiträgt, den Unmut gerade zu vergrößern. Es spricht aber vieles dafür, dass die Wut schon länger gärt. Und dass die Deutschen gerade erfahren, was Briten, Amerikaner, Franzosen, Italiener, Niederländer und etliche andere schon seit Jahren durchleben – einen zunehmenden Abbruch zwischen Menschen und Politverantwortlichen. Wobei die anderen dafür weder verunglückte Heizgesetze noch Streit über Agrardieselbesteuerung oder einen verirrten Finanzminister benötigten.
Bedrohlich steigende Zahl verstörter Menschen
Bedingt hilfreich ist auch, wenn Regierende das Problem wiederum bei rechten Netzwerken verorten, die den Unmut (in der Tat) in Generalstreik- bis Umsturzfantasien zu katapultieren versuchen. Das geht ja auch nur, weil es mittlerweile eine bedrohlich steigende Zahl an verstörten Menschen aus der viel zitierten Mitte der Gesellschaft gibt, die sich in so einen Wahn hineinziehen lassen – und über »die« Regierung mit beeindruckender Selbstgewissheit wüten, weil diese per se und überhaupt unfähig sei; oder böse bis fremdgesteuert. Was nach Rettung vor Massentod, Hyperinflation und Frierwinter zumindest ein bisschen undankbar wirkt.
Wenn in so vielen reicheren Ländern in den vergangenen Jahren derart ähnlich viel Wut über die Verhältnisse gewachsen ist, spricht einiges dafür, dass es dafür gemeinsame Ursachen gibt. Worin die liegen könnten, haben etwa die beiden Ökonomen Mark Blyth und Eric Lonergan in ihrem Buch »Angrynomics« zu entschlüsseln versucht. Ein Teil der Antwort könnte demnach schon darin liegen, dass über drei Jahrzehnte im Trend war, eher die Wirtschaft als gewählte Politiker darüber entscheiden zu lassen, was gut ist: staatliche Leistungen abzubauen, mehr »Eigenverantwortung« einzufordern – und der Globalisierung ansonsten freien Lauf zu lassen. Egal, welche Monster das hervorgebracht hat. Unter der zweifelhaften Annahme, dass die Menschen damit umgehen können – und eben flexibel darauf reagieren. Was absurd ist, wenn es um große Krisen geht, die wie die Finanzkrise ganz andere verursacht haben.
All das habe dazu geführt, so Blyth und Lonergan, dass bei gleichzeitig beschleunigtem Wandel die Zahl derer steigt, die irgendwann an einen Punkt kommen, vom Wandel überfordert zu sein; oder sich übervorteilt fühlen – weil, wie in den USA, die chinesische Billigkonkurrenz irgendwann ganze Regionen verödet hat; oder weil es eben doch absurd ist, von Menschen eine eigenverantwortliche Altersvorsorge einzufordern, die froh sind, wenn sie am Ende des Monats überhaupt einen Cent übrighaben; oder weil die hehre These sich in globalisierten Zeiten als absurd erweist, dass man sich nur genug anstrengen muss, um etwas zu erreichen. Was eine Zunahme von Angst, Stress, Unsicherheit und dem Gefühl der Ohnmacht erklärt, wie sie auch die Statistiken zum drastischen Anstieg psychischer Leiden in den vergangenen Jahrzehnten belegen. Hier, so die Forscher, liege eine Kernursache kollektiv gewachsener Wut.
Kompensation für den Kontrollverlust
Wenn das stimmt, spricht viel dafür, dass Pandemie und Inflationsschub seit 2020 die nächste Welle des Dramas befördert haben. Wie Dan Ariely in seinem Buch »Misbelief« (Irrglauben) über den Zulauf zu irrationalen Heilslehren darlegt, hat schon die Pandemie wie ein Katalysator gewirkt. Kaum etwas sei psychisch für Menschen so schwierig zu ertragen wie Stress, der sich nicht vorhersehen lässt, so der Psychologieprofessor von der Duke University. Weil sich das Gefühl von Ohnmacht schnell verselbständige – und vor allem dazu führe, dass die Betroffenen nach Kompensation für diese Art unangenehmen Kontrollverlust suchen: ob das Sündenböcke sind oder die Suche nach irgendwelchen Erklärungen. Was im Falle unbeherrschbarer Situationen schnell dazu führe, diffuse und teils komplex wirkende Theorien über böse Mächte und allerlei Untergänge zu glauben, so Ariely.
Noch in der ersten Welle der Pandemie schien genau das Gegenteil zu passieren: Weil die Verantwortlichen schnell reagierten, wirkte die Seuche unter Kontrolle – und die Regierungen gewannen sogar an Popularität, während Populisten wie Trump verloren. Was sich umkehrte, spätestens als irgendwann die dritte und vierte Welle aufliefen – und immer mehr Menschen dadurch unvorhersehbaren Stress zu spüren bekamen. Wie Ariely darlegt, beginnt dann oft eine fatale Abwärtslogik: Wer in Absturzfantasien und Elite-Bashing Halt findet, steckt schnell in (Social-Media-)Blasen, die zur Selbstbestätigung neigen – und bei denen jeder Widerspruch als Beleg dafür gesehen wird, dass der Widersprechende eben durch böse Mächte und Regierende vernebelt wurde. Irgendwann ausweglos, so Ariely.
Wenn die Vermutung stimmt, dass in dem Mix aus schwer beherrschbarem Stress und mangelndem individuellem Einfluss ein Kern für Wut und sich verselbständigenden Unmut liegt, ist der Spuk mit der Pandemie eben auch nicht vorbei gewesen, sondern wirkt jetzt zunehmend bedrohlich nach. Zumal die Inflation gleich danach ähnliche Ohnmachtsgefühle bestärkt hat – wer kann schon etwas dafür, dass Putin in die Ukraine einmarschiert ist, außer Putin und seine Leute. Dann spricht viel dafür, dass die wirtschaftsliberalen Experimente seit spätestens den Neunzigerjahren dazu beigetragen haben und dass die Wirklichkeit der Menschen immer häufiger von der hehren Idee abwich, wonach freie Märkte über eine unsichtbare Hand zum Wohl aller beitragen – und im Grunde jeder selbst für sein Schicksal verantwortlich ist. Was in dieser Absolutheit in diesen Zeiten natürlich ein ziemlich absurder Anspruch ist. Dann passt auch, dass es nach der Pandemie noch einmal mehr Grund dafür gibt – was nach Auswertungen historischer Erfahrungen etwa mit der Spanischen Grippe nicht überraschend war (siehe hier). Erst Pandemie, dann Inflation. Ohnmacht, nächste Folge.
Das Fatale ist, dass die Regierungen in den Zeiten naiver Globalisierung viel von jener Steuerbarkeit abgegeben haben, die jetzt nötig wäre, um Vertrauen wiederherzustellen – weil es damals schick war, alles zu deregulieren und der Wirtschaft zu überlassen. Was dazu geführt hat, dass Länder wie Deutschland in der Pandemie plötzlich vor dem wirtschaftlichen Kollaps standen, weil Chips, Masken oder strategisch wichtige Medikamente nur noch von ein paar Herstellern im Fernen Osten geliefert wurden. Oder dass Regierungen vor den Kapitalmärkten bibbern, die selbst alles andere als stabil sind. Oder dass Geld fehlt, weil die Steuern auf Reiche und Kapital gesenkt wurden – mit diffusem Verweis auf die globale Konkurrenz. Und auch das Gefühl abhandengekommen ist, dass die Regierung mit der Aufnahme von Flüchtenden klarkommt. Ohnmacht als Prinzip.
Klar, in Deutschland kommt hier und heute erschwerend hinzu, dass es auch noch eine Regierung hat, die krampfhaft versucht, drei offenbar eher unvereinbare Parteien auf einen Kurs zu bringen. Was nicht unbedingt den Eindruck von Kontrolle und Steuerbarkeit stärkt. Vor lauter konfusem Schuldenbremsen-Dogma wird genau das gemacht, was in kritischen Situationen historisch schon öfter ins Desaster geführt hat – jetzt Menschen auch noch Geld und Existenz zu nehmen, die ohnehin im akuten Fall durch die Nachwehen von Pandemie, Inflation und anderen Schocks gefährlichem Stress ausgesetzt sind. Und die dazu neigen, sich von Leuten mitziehen zu lassen, die den Unmut ausnutzen, um das Land besinnungslos für umsturzreif zu erklären.
Wer das Abgleiten in solche Fantasien noch stoppen will, sollte alles daraufsetzen, jenen unvorhersehbaren Stress zu mindern, der die Leute kirre macht. Und auf alles verzichten, was zum Gegenteil beiträgt – wie etwa das heillose Kürzen von Hilfen oder von Anreizen für alle, die Gutes machen, ob Elektroautos kaufen oder anderes. Zumal es ja auch darum geht, einen Klimawandel zu stoppen, wofür es weder historisch noch in den Lehrbüchern eine Blaupause gibt – auch wenn die Gelehrten gern das Gegenteil behaupten. Das geht nur übers Versuchen und Testen und Korrigieren. Und darüber, alle mitzuziehen, statt sie mit höheren Kosten zu bestrafen. Mittel gegen die Ohnmacht.
Es gibt Gründe dafür, dass sich bei uns wie anderswo derzeit eine nächste gefährliche Welle Unmut aufbaut. Das ist nicht Schuld der Betroffenen. Nur dass dieser Unmut gerade auf noch gruseligere Art genutzt wird, um die Leute wie besinnungslos gegen alles und jeden aufzuhetzen – und in eine heillose Untergangsstimmung zu stoßen, die bei aller gerechtfertigten Kritik an schlechten Regierungsleistungen mit der Lage im Land nicht zusammenpasst.