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Thomas Fricke: Bundestagswahlen – Merkels geheime Konjunkturwaffe

1. September 2017

Seit Beginn der Merkel-Ära gilt: Immer wenn gewählt wird, bessert sich wundersam in den Monaten zuvor die Wirtschaftslage im Land – und die Chancen der Herausforderer schwinden. Mysteriös.

Was hat Frau Merkel, was Herr Schulz nicht hat? Ein magisch wirkendes Einlull-Gen? Mit dem sie jede Wechselstimmung im Land lähmt? Oder die Neigung, alles immer vorwegzunehmen, was der andere als Alternative vorschlägt? Mag sein. Es gibt allerdings noch ein weit mysteriöser wirkendes Phänomen, das erklären könnte, warum kurz vor der Wahl noch jeder hoffnungsfrohe Herausforderer vor Angela Merkel den Steinbrück-Steinmeier-Schulz macht.

Bei näherem Hinsehen fällt auf: Jedes Mal, wenn seit Angela Merkels Antritt 2005 Bundestagswahlen anstehen, scheint sich wie wundersam just in den Monaten zuvor die wirtschaftliche Lage im Land stark zu bessern – und die Lust im Volk entsprechend nachzulassen, unbedingt eine neue Regierung zu bekommen. Ausnahmslos. Auch jetzt. Rätselhaft? Ein bisschen, ja. Vor allem aber mit einer klaren Lehre für all jene, die versuchen, Angela Merkel doch noch zur Altkanzlerin zu machen. Ein Aufklärungsversuch.

Als die Kanzlerin im September 2009 zur Wiederwahl gegen Frank-Walter Steinmeier antrat, kam die Wirtschaft gerade aus der Finanzkrisenrezession – der Geschäftsklimaindex des Ifo-Instituts, bester Indikator für die konjunkturelle Gesamtlage im Land, begann genau vier Monate vor der Wahl, sich spektakulär wieder zu verbessern. Vier Jahre später – ähnliches Muster: Pünktlich zum Wahljahr waren die Euro-Turbulenzen überwunden, und die Geschäftslage begann, fünf Monate vor der Wahl zu steigen. Wechsel? Wieder nichts.

Die jüngste Variante erleben wir in diesen Tagen. Wahljahr. Und die Konjunktur, raten Sie mal, zieht an. Der Ifo-Index steigt seit April – und erreicht, just vor der Wahl, sogar Rekorde. Polit-Ergebnis absehbar. Zufall oder nicht: Seither schwinden auch Herrn Schulz‘ Chancen, Frau Merkel abzulösen; kann er machen, was er will – hilft offenbar nichts.

Jetzt spricht nicht viel dafür, dass die Konjunktur vor Wahlen deshalb anzieht, weil sich die Wirtschaft so auf Frau Merkel freut. Ein Teil der besseren Geschäfte kommt fast immer vom Export, also der guten Weltkonjunktur. Unwahrscheinlich, dass, sagen wir, der Chinese seine Geschäfte nach unserer Kanzlerin richtet. Eher Zufall. Einen anderen Teil des Phänomens könnte allerdings die alte Küchenregel erklären helfen, wonach (auch Merkel-)Regierungen vor Wahlen nicht unbedingt dazu neigen, Volk und Wirtschaft zu ärgern, indem sie ihnen Geld und Geschäfte wegnehmen. Im Gegenteil. Anfang 2009 gab es mitten in der Rezession ordentlich Geld für Abwrackprämien und Kurzarbeitergeld. Das machte Wähler glücklich. Und die Konjunktur besser. Im Wahljahr 2013 setzte der Finanzminister erstmals wieder das Sparen aus. Zufall? Nicht unbedingt.

Die gute Frau pusht vor jeder Wahl die Stimmung im Land

Und 2017 – zur Erinnerung – gab es zum Start ins Wahljahr mehr Kindergeld, höhere Kinderfreibeträge, mehr Bafög, mehr Arbeitslosengeld II, mehr Mindestlohn, sinkende Steuerlasten – dazu noch das Nachwirken der Rentenerhöhung vom vergangenen Jahr. Nach Schätzung der Wirtschaftsforschungsinstitute vom Frühjahr kommen dieses Jahr so per Saldo rund zwölf Milliarden Euro mehr unter die Leute. Gut für den Wähler. Und für die Konjunktur. Was wiederum den Wähler gütig stimmt.

Klingt märchenhaft, oder? Die gute Frau pusht vor jeder Wahl die Stimmung im Land – und schon weiß keiner mehr, warum er mal was anderes wählen wollte. Sagen wir so: Die vorliegenden Befunde könnten zumindest auch erklären, warum es dem Herausforderer Schulz seit Wochen auch nicht mehr gelingt, mit dem Verweis auf die Verlierer des Aufschwungs, mangelnde Investitionen oder andere tiefersitzende Probleme im Land zu punkten – also das zu tun, was ihn Anfang des Jahres noch populär machte. Die Probleme sind nicht weg. Nur ist der schnöde konjunkturelle Trend mittlerweile womöglich so stark, dass das psychologische Momentum fehlt, Unmut und Wechselstimmung im Land mehrheitsfähig zu halten. Menschlich. Alte Psychologenweisheit.

Gut möglich, dass auch Merkelsches Rauteln und Einlullen umgekehrt nichts mehr helfen würden, wenn die Wahl mal im konjunkturell falschen Moment stattfände – anders als es vor ausnahmslos jeder Wahl Merkels bisher der Fall war. Also, wenn es Monate vor der Wahl plötzlich schlechter liefe. Kaum auszudenken. Wer weiß, ob Deutschland dann überhaupt eine Kanzlerin hätte, die weitgehend frei von programmatischen Lasten immer wieder gewählt wird.

Dem Herrn Schulz mag das jetzt nicht mehr viel helfen. Die Stimmung wird – Katastrophen ausgenommen – so schnell nicht kippen. Die einzige logische Konsequenz für Herausforderer kann für die Zukunft ja nur sein: zu versuchen, die Konjunktur vor Wahlen möglichst nachhaltig zu beeinträchtigen. Also kein Kindergeld zu erhöhen oder Mindestlöhne zu steigern oder öffentliche Investitionen anzuschieben, wie das die Sozialdemokraten in der Großen Koalition vorangetrieben haben. Was nach aller Wahrscheinlichkeit stark dazu beigetragen hat, dass die Kanzlerin konjunkturbedingt nun so schön vorn liegt. Ganz schön blöd.

Beim nächsten Mal also: Steuererhöhungen; und Rentenkürzungen; und mehr Abgaben. Damit es nicht wieder plötzlich so unglücklich besser läuft. Logisch. Naja, und wenn’s dann trotzdem nicht reicht, ließe sich immer noch die große alte Rolf-Rüssmann-Fußball-Losung heranziehen: Wenn wir hier schon nicht gewinnen, treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt.

Anmerkung der Redaktion: 2009 trat Angela Merkel gegen Frank-Walter Steinmeier und nicht gegen Peer Steinbrück an. Wir haben den Fehler korrigiert.

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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

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