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Thomas Fricke: Wirtschaftskrise – Warum Deutschland einer Rezession gefährlich nah ist

27. April 2019

Trotz aller Warnsignale verbreiten Ökonomen und Politiker seit Monaten stoisch die Hoffnung darauf, dass die Konjunktur bald wieder anzieht. Dabei ist die deutsche Wirtschaft längst bedrohlich dicht an einer tieferen Krise.

Erst hieß es, so ein bisschen Stimmungsabfall sei doch irgendwie normal, nach so viel Hochstimmung. Dann waren es nach gängiger Auguren-Einschätzung die vorübergehenden Schwierigkeiten der Autokonzerne, vergangenen Sommer auf neue Abgasnormen umzustellen. Oder die niedrigen Wasserstände der Flüsse, die halt die eine oder andere Lieferung per dickem Frachter erschwerten. Weshalb halt die Konjunktur ein bisschen schwächele.

Botschaft: Das wird bald wieder besser. Ebenso wie die Unsicherheit über den britischen EU-Austritt, chinesische Konjunkturabstürze oder Trump’sche Drohungen mit Handelskrieg. Immerhin gäben die Deutschen mittlerweile ja selbst so unbeschwert Geld aus, dass so ein bisschen Export- und Industriekriseln konjunkturell locker wegzustecken sei. Das Motto: Gute Laune bei hiesigen Dienstleistern macht Krisenstimmung in der Industrie wett.

So oder so ähnlich lesen sich seit einem Jahr die Konjunkturbefunde. Nur dass die stoisch versprochene Wende zum Besseren noch immer nicht eingetreten ist. Weder nach Ende der Umstellungsakrobatik deutscher Autohersteller, noch nach Auffüllen der Flüsse. Und auch sonst nicht. Im Gegenteil. Und es scheint immer zweifelhafter, ob diesmal die Prophezeiung eintritt – und alles dann doch bald wieder besser wird. Womöglich passiert gerade etwas viel Gravierenderes mit der deutschen Wirtschaft.

Die These, wonach Deutschlands Industrie einfach nur ein Päuschen macht, wirkt zunehmend grotesk. Im Februar produzierten die Firmen 4,5 Prozent weniger als zum Höhepunkt im Mai 2018 – das kommt bereits einer ausgeprägten Rezession gleich. Und ein Ende der Talfahrt ist allen Beteuerungen zum Trotz nicht in Sicht. Im Februar gingen rund zehn Prozent weniger Aufträge ein als vor der Wende zum Schlechteren – mit drastischer Beschleunigung des Absturzes seit Anfang des Jahres.

Die Exporterwartungen deutscher Unternehmen haben sich Umfragen zufolge derart rasant abgeschwächt, dass es nur noch geringfügig mehr Firmen gibt, die mit besseren Geschäften rechnen, als solche, die für die kommenden Monate mit Absatzeinbußen im Ausland rechnen.

Von der Exportkrise zum Konjunkturabschwung…
Saldo aus positiven und negativen Meldungen der Unternehmen nach Ifo-Umfrage, in Prozentpunkten
…zur Jobkrise in Deutschland?
Index für Beschäftigungsbarometer

All das deutet darauf hin, dass dahinter bereits sich selbst verstärkende Trends stecken – und die Exporteure weniger bei den Zulieferern und die Zulieferer weniger bei ihren Zulieferern bestellen. In der Industrie insgesamt gibt es mit Blick auf die nächsten Monate mittlerweile fast 15 Prozent mehr Pessimisten als Optimisten.

Mit jeder neuen Negativmeldung aus dem produzierenden Gewerbe wackelt umso mehr auch das Argument, wonach doch Binnenkonjunktur und Dienstleistergeschäfte dafür prima laufen. Nach Jahren der Exportmanie hängt heute ein viel größerer Teil der deutschen Wirtschaft direkt oder indirekt am Export, als das früher der Fall war. Viele Dienstleistungen, die früher von eigenen Abteilungen in den Konzernen erbracht wurden, sind nach Jahren des Outsourcing-Fetischismus heute ausgelagert, hängen dafür aber immer noch völlig an der guten oder schlechten Exportkonjunktur.

Was kürzlich noch toll schien, wirkt plötzlich höchst tückisch: In kaum einem anderen großen Industrieland werden die Geschäfte so stark beeinträchtigt wie hierzulande, wenn in China die Konjunktur schwächelt, Italiens gewichtige Wirtschaft seit der Wahl der Populisten in die Rezession geraten ist oder der US-Präsident mit Handelskriegen droht – und nach wie vor keiner so recht weiß, wie man künftig mit den Briten Geschäfte machen soll.

Bei einem so hohen Anteil der Exporte an der Wirtschaftsleistung des Landes muss sich das früher oder später auch in der deutschen Binnenkonjunktur bemerkbar machen. Anfang des Jahres investierte die hiesige Wirtschaft bereits gut fünf Prozent weniger im Inland als noch im Frühjahr 2017.

In der Krise steigt die Arbeitslosigkeit

Noch scheint es Grund zu Zuversicht zu geben, dass die Unternehmen auf all das nicht mit großen Entlassungen reagieren – noch nicht. Es hat dennoch etwas fahrlässig Naives, darauf zu setzen, dass ein so robuster Arbeitsmarkt gegen den Absturz schützt, weil ein Job den Leuten entsprechend viel Geld zum Ausgeben beschert. Wenn die Konjunktur gut läuft, liegt das nicht daran, dass es dem Arbeitsmarkt gut geht. Die Sache funktioniert eher umgekehrt. Die Firmen schaffen Jobs, solange es konjunkturell noch einigermaßen gut läuft.

Nach aller Erfahrung machen sich konjunkturelle Abstürze auch in zunehmenden Entlassungen und höheren Arbeitslosenzahlen bemerkbar – nur eben erst mit etwas Verzögerung. Das liegt unter anderem daran, dass es Kündigungsfristen gibt und Firmen in der Regel mit der Verabschiedung bewährter Kräfte warten, bis es wirklich ernst wird. Was dazu führt, dass in jedem Abschwung sich erst einmal die Hoffnung hält, es werde schon nicht so schlimm werden.

Als die deutsche Wirtschaft letztmals in eine Rezession glitt, begann der Abschwung im April 2008 – die Zahl der Arbeitslosen begann erst im Januar 2009 zu steigen. Ähnliches gilt für frühere Krisen. 2001 ging es im Januar in die Rezession – mehr Arbeitslose gab es im Jahresschnitt erst 2002.

Gut möglich, dass die Unternehmen diesmal noch ein Stück länger mit größeren Entlassungen zögern – in Zeiten des latenten Fachkräftemangels, in denen gute Leute in vielen Branchen nicht so schnell wieder zu finden sein könnten. Eher unwahrscheinlich ist aber, dass dies jene wirtschaftliche Logik aussetzt, wonach bei drastisch sinkenden Aufträgen irgendwann auch Mitarbeiter gehen müssen.

Die ersten ziemlich ernsten Warnsignale gibt es bereits. Seit Mitte 2018 melden die Betriebe in Umfragen des Münchner Ifo-Instituts drastisch nachlassende Einstellungen. In der Industrie meldeten ab Januar erstmals wieder mehr Firmen, dass sie Stellen abbauen, als solche, die noch auf Stellenaufbau setzen. Wenn der Trend auch in anderen Branchen in Richtung Jobabbau kippt, wird es – logisch – auch rasch damit vorbei sein, dass die Leute so viel mehr konsumieren und die Konjunktur stützen.

Die Regeln der Globalisierung wackeln

Umso gewagter erscheint deshalb auch die Prophezeiung mancher Daueroptimisten, wonach alles wieder besser wird, wenn nur die Chinesen – wie sie es jetzt tun – die Konjunktur mit viel Geld anschieben; oder der US-Präsident sich vielleicht doch auf diesen oder jenen Deal im Handelsstreit einlassen könnte. Das klingt ein bisschen, als setze man beim Fußball im heillos verlorenen Duell auf günstige Windverhältnisse in der letzten Viertelstunde.

So viel Deuterei über diese oder jene konjunkturellen Einzeleinflüsse könnte das eigentliche und viel größere Phänomen kaschieren: dass wir ganz ungeachtet der täglichen Stimmungslage des US-Präsidenten oder der letzten Zuckungen des britischen Parlaments hinsichtlich der Brexit-Ausführung in einer sehr tiefer liegend irren Zeit leben – in der lange geltende Regeln der Globalisierung plötzlich wackeln. Einer Globalisierung, auf die sich die deutsche Wirtschaft lange verlassen hat und dabei stets darauf hoffte, dass irgendwo immer genug gute Konjunktur ist, damit deutsche Exportwaren hinreichend Absatz finden. Und die ganze deutsche Wirtschaft davon (fast) allein lebt.

Fast alles deutet mittlerweile darauf hin, dass Deutschlands Wirtschaft in Wirklichkeit gerade akut rezessionsgefährdet ist – und es in ein paar Wochen schon zu spät sein könnte, um noch gegenzusteuern. Höchste Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Egal, wie wahrscheinlich es noch sein könnte, dass die ganz große Krise vielleicht doch noch ausbleibt.

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Die Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).