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Thomas Fricke: Die kommenden Zwanzigerjahre – Ein Jahrzehnt für Neudenker – oder die Katastrophe

3. Januar 2020

Frau Merkel hat gesagt, wir bräuchten mehr denn je Mut zu neuem Denken. Klingt toll. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was damit gemeint sein könnte.

Unsere Bundeskanzlerin hat in ihrer Neujahrsbotschaft etwas sehr Schönes gesagt. Und zwar, dass wir jetzt „mehr denn je den Mut zu neuem Denken“ bräuchten. Und die „Kraft, bekannte Wege zu verlassen“. Und die „Entschlossenheit, schneller zu handeln“.

Was wir vom Volk nur begrüßen können – wer will schon mutlos alte Ideen kundtun, und dann auch noch langsam (das würden selbst die Freunde von der AfD so nicht formulieren).

Und was die Kanzlerin da sagt, klingt zugleich noch hinreichend gestaltbar, sodass sich niemand unmittelbar davon belästigt fühlen muss. So genau hat sie den Sachverhalt in der frohen Botschaft ja nicht ausformuliert. Eigentlich gar nicht.

Jetzt ist anzunehmen, dass Angela Merkel tief im Inneren genauestens weiß, was wir da alles neu denken sollen – und es uns nur noch nicht verraten will. Geduld, mein Volk! Was entweder bedeutet, dass wir noch ein bisschen warten müssen. Oder schon mal überlegen können, was die Kanzlerin meinen könnte. Für den unwahrscheinlichen Fall auch, dass die Kanzlerin es zwischenzeitlich wieder vergisst.

Möglich, dass Frau Merkel einfach nur meinte, dass wir uns eventuell bald darauf einstellen müssen, statt Benzin Strom in unsere Automobile zu füllen. Oder öfter mal schnell den Bus zu nehmen. Und so etwas. Was nicht wirklich so spektakulär wäre, wenn einmal genug E-Tankstellen, günstige E-Autos und Busverbindungen verfügbar sind.

Es spricht nur einiges dafür, dass das Neuzudenkende historisch größere Dimensionen hat – egal, ob das Frau Merkel auch meint oder nicht. Weshalb es auch helfen könnte, das Ganze historisch anzugehen.

Kleiner Exkurs (keine Sorge, wir sind gleich zurück): Als Ende der –1920er Jahre der große Crash kam und die Wirtschaftskrise ausbrach, folgten erst Jahre mit Massenarbeitslosigkeit, überall Rechtsregime und ein Weltkrieg – worauf ein ziemlich grundlegendes neues Denken in allem folgte, was Wirtschaft und Gesellschaft so ausmachte:

  • weg vom naiven Glauben in den Wirtschaftsliberalismus des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hin zu einem viel stärker regulierten Kapitalismus und einer – in der Bundesrepublik – sozialen Marktwirtschaft;
  • weg von den großen Trusts hin zu mehr geregeltem Wettbewerb;
  • weg vom Manchester-Kapitalismus hin zu mehr Schutz für Arbeitnehmer;
  • weg von der Rumtata-Globalisierung (die damals noch viel mit Kolonialismus zu tun hatte) hin zu einem Bretton-Woods-System mit festen Wechselkursen und sorgsam liberalisiertem Handel. Exkurs Ende.

Als vor mehr als einem Jahrzehnt der nächste historische Crash folgte, schien nahezuliegen, was darauf nach historischer Vorlage folgen musste: große Wirtschaftskrisen und aufsteigende Populisten – später gefolgt von neuem Denken. Weg vom naiv-marktliberalen Dogma der Reagan– und Thatcher-Ära und von der weitgehend ungestümen Globalisierung hin zu etwas Neuem und Besserem. Wie damals nach dem Crash von 1929.

Aus der Geschichte gelernt

Was bis zu einem gewissen Grad auch eintrat. Auf den Crash folgte 2009/10 die schwerste Rezession seit langem, und in den Jahren darauf gewannen überall rechte Populisten an Bedeutung – ob Brexiteers, Donald TrumpViktor Orbán oder Matteo Salvini.

Wichtiger Unterschied: Weil Historiker wie der damalige US-Notenbankchef Ben Bernanke aus der Geschichte zu lernen versuchten, reagierten die Währungshüter mit enormen Geldhilfen – und Regierungen mit großen Konjunkturpaketen. Die Folge: Anders als in den 1930er-Jahren blieben Massenarbeitslosigkeit, Depression und Deflation nach dem ersten Schock (mit Ausnahme des geschichtsvergessen malträtierten Griechenlands) diesmal aus; konnte zumindest die akute Krise so eingedämmt werden.

Kehrseite: Mit dem erfolgreichen Kampf gegen die Folgen des Crashs ließ auch der Druck nach, die tieferen Ursachen der Turbulenzen anzugehen. Bis auf die eine oder andere Reform fürs Bankengeschäft blieb in Sachen Finanzglobalisierung vieles beim Alten.

Nach wie vor schießen Händler Billionen täglich über ihre Bildschirme. Nach wie vor werden die Märkte von Herdenreflexen getrieben. Nach wie vor gibt es auch noch keine wirklich gute Antwort darauf, wie Politiker damit umgehen sollen, wenn als Folge von Globalisierung oder neuen Technologien ganze Branchen und Regionen wirtschaftlich abzustürzen drohen. Und nach wie vor fehlt das große Programm, wie der Klimawandel zu stoppen ist – da reicht es ja nicht, einfach nur höhere Spritpreise zu machen.

Gefahr der alten Dogmen

Noch wirken auch die alten Dogmen nach, wonach Regierungen ihre Ausgaben per se am besten immer kürzen – was de facto zu mittleren Desastern in der Infrastruktur nicht nur in Deutschland, sondern auch und vor allem in Großbritannien oder den USA geführt hat. Dadurch sind ganze Regionen abgestürzt, was erklärt, warum in solchen Regionen mehr als anderswo Unmut über die Politik herrscht und mehr als anderswo rechte Polterer gewählt werden – und die Glaubwürdigkeit etablierter Parteien so stark geschwunden ist.

Wenn stimmt, dass Gesellschaften überzeugende Leitbilder brauchen, um zu funktionieren, dann könnte hier der tiefere Grund für die heutigen Politkrisen liegen. Dann liegt hier auch der Kern dessen, was neues Denken ausmachen müsste – ein neues Leitbild dafür, woran Politiker und Bürger sich orientieren sollten, in Nachfolge des Dogmas von den angeblich fast alles heilenden Märkten, eines weitgehend nutzlosen Staates und den Wunderkräften einer immer stärker ausgeprägten Globalisierung.

Das Gute zum Start des neuen Jahrzehnts ist, dass bei alledem seit Jahren schon neue Ideen reifen – und sich abzeichnet, wie das neue Denken wirtschaftspolitisch aussehen könnte. Wie eine Finanzpolitik aussehen sollte, die nicht nur stoisch darauf guckt, dass am Ende keine Schulden gemacht werden – sondern zuerst darauf, welche Investitionen wichtig wäre, um den (jungen) Leuten eine gute Zukunft zu sichern. Und wie sich das bezahlt macht.

Oder wie es gelingen könnte, den Klimawandel zu stoppen und Geld in die dafür nötige Infrastruktur alternativer Autoantriebe oder öffentlicher Verkehrsmittel zu stecken. Oder wie ein beschaulicheres Finanzsystem aussehen könnte. Und der Abstand zwischen Reichen und Armen wieder schrumpfen könnte.

Wenn Sie jetzt sagen, dass Ihnen das nun wirklich zu unkonkret ist, gehen Sie einfach davon aus, dass der Autor dieser Zeilen es im tiefsten Inneren natürlich weiß, es aber noch nicht verraten will. Das Jahr ist ja noch jung. Und das Jahrzehnt erst.

Frohes Neues.

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Die Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).