Vor Kurzem sah es noch aus, als hätte Emmanuel Macron genug Vorsprung, um nach den beiden Wahlgängen an diesem und am übernächsten Sonntag zu siegen. Jetzt holt Marine Le Pen auf, und plötzlich scheint möglich, was als nächster großer Populisten-Schock im denkbar schlimmsten Moment in die Geschichte eingehen könnte: dass die Rechte Frankreich als nächste Präsidentin auf einen wirr nationalistischen Kurs gegen die EU und Deutschland führt – wie einst Donald Trump auf seine Art. Nur, dass gerade Krieg in Europa ist.
Höchste Zeit auszuloten, was das bedeuten könnte – und warum überhaupt mittlerweile etwa die Hälfte der Franzosen und Französinnen für populistisch-nationale Rechte oder Linke stimmen wollen. Was heißen kann, dass der Schock, wenn nicht diesmal, dann in fünf Jahren umso heftiger einschlägt. Und auch Deutschland davor nicht geschützt sein könnte. Bisher konnte ein solcher Schock hierzulande (noch) abgewendet werden, weil anders als bei Macron in den vergangenen Jahren ziemlich viel Geld für benachteiligte Menschen im Land ausgegeben und orthodox-liberale Wirtschaftsreformen zurückgenommen wurden.
Vor fünf Jahren gewann Macron in der Stichwahl mit großem Abstand – jetzt ergeben die Umfragen nur noch einen Vorsprung von ein paar Prozentpunkten. Und dass Le Pen derzeit mit fast 50 Prozent der abgegebenen Stimmen rechnen könnte. Was zum einen daran liegt, dass die Frau weit moderatere Töne anschlägt als früher – nicht mehr aus dem Euro oder der EU rauswill; und zum anderen an einem sehr viel gravierenderer Trend: Neben Le Pen und ihrem Rassemblement National gibt es mit Éric Zemmour einen sehr viel radikaleren zweiten Rechtsextremen, dessen Wähler im zweiten Wahlgang ihre Stimme Le Pen geben dürften. Selbst vom Linksnationalen Jean-Luc Melanchon könnte sie einige Wähler abbekommen. Nimmt man alle drei zusammen, kommt man nach derzeitigen Umfragen auf fast 50 Prozent. Knapp die Hälfte der Wähler wollen also Leute wählen, die das etablierte Politsystem ablehnen und mehr oder weniger populistisch auf mehr oder weniger aggressiven Nationalismus setzen. Ein Desaster im Anflug.
Umso tückischer wirkt es, dass Marine Le Pen gelernt hat, nicht (mehr) rebellisch und radikal zu wirken – und die AfD demgegenüber wie eine wirre Kirmestruppe aussieht. Wenn die Frau wirtschaftspolitisch machen würde, was sie ankündigt, würde das auch kein Abdriften in Schuldenexzesse bedeuten, wie die Analysten der Allianz schreiben. Dass sie gefährlich werden könnte, liegt eher daran, dass sie anders handeln als reden dürfte – und selbst ihr moderaterer Anti-EU-Kurs reichen könnte, in der EU über Jahre eine Menge zu blockieren, was nur mit gemeinsamem Vorgehen erreichbar ist. Und dass sie früher oder später auch gegen die Deutschen pesten wird, weil die bisher immer Sonderrollen bekommen haben. Mal ganz abgesehen vom unmittelbaren Desaster, dass EU wie Nato hier und jetzt nicht mehr einig gegen Putin agieren könnten.
Das alles erinnert nicht zufällig an Donald Trump. Und an Britanniens Brexit-Wirren. In beiden Fällen wie für Frankreich gibt es mittlerweile eine Menge Studien und Hinweise darauf, dass die Menschenfänger überdurchschnittlich stark von Leuten gewählt wurden, die von Strukturbrüchen getroffen wurden und die Kontrolle über ihre eigene Existenz zumindest zeitweise verloren haben. Das macht offen für Politiker, die Sündenböcke bieten: die EU, den Islam, Deutschland, andere. Und die versprechen, dass die Probleme der Menschen mit mehr Nationalem zu lösen sind.
Wenn das auch für Frankreich stimmt, wie Auswertungen vermuten lassen, könnte das im Rückblick auf Macrons bisherige Amtszeit mehr als alles andere erklären, warum die Populisten seit der vorigen Wahl noch mal zugelegt und mittlerweile das halbe Land für sich gewonnen haben. Richtig, die Arbeitslosenquote ist wieder auf den Stand zurückgefallen, den sie in Frankreich zuletzt vor der Finanzkrise 2008 hatte. Richtig ist auch, dass Macron spätestens in der Coronakrise mächtig Geld ausgeben ließ, um Haushalten und Unternehmen zu helfen.
Nur: Ein Großteil der neuen Beschäftigung ist etwa durch die Ausbildungsförderung für Jüngere entstanden – was gut ist, aber noch keine dauerhaften Arbeitsplätze sichert. Zumal ein großer Teil der Stellen, die tatsächlich dazu kamen, schlechter bezahlt ist. Für Ältere, die besonders von Strukturbrüchen und Frust in entlegenen Regionen getroffen sind, gab es deutlich weniger Jobs und Hilfen. Auch ist es in Frankreich nach wie vor gang und gäbe, dass Arbeitnehmer von Kurzzeitvertrag zu Kurzzeitvertrag wechseln. Stichwort: Kontrollverlust – und Beschleunigung für Populisten. Siehe oben.
Macron schaffte im Eifer auch die Vermögensteuer ab – nicht unbedingt eine Top-Idee, wenn es darum geht, auseinanderbrechende Gesellschaften zu retten. Zumal wenn gleichzeitig Benzin verteuert und die Hilfen für Menschen gekürzt wurden, die das Geld, sagen wir, nötiger haben. Gelbwesten-Alarm. Im Schnitt liegt die inflationsbereinigte Kaufkraft der Franzosen heute kaum höher als 2007, wie die Ökonomen des Pariser Forschungsinstituts OFCE berechnet haben. Und: Unter denen, die ohnehin schon am wenigsten verdienen, hat eine Mehrheit durch Macrons Reformen an finanziellem Lebensstandard eingebüßt – während bei den mittleren Einkommen die Gewinner überwiegen.