Es scheint ein bisschen wie im realen Leben. Wenn Schnupfen vorliegt, kommt meist auch noch Rücken dazu. Und eine Panne im Büro. Und die ausfallende S-Bahn. Kommt halt immer alles zusammen.
Für Deutschland scheint das wirtschaftlich gerade irgendwie ähnlich zu sein. Da kommt zur Corona-Dauerwelle die Inflation, die Energiekrise, der Aktienabsturz und die Rezessionsangst. Und, seit dieser Woche neu im Angebot, auch noch der Absturz des liebsten Erfolgsmodells der Deutschen: des Exports. Angeblich. Jedenfalls gebe es erstmals seit Jahren keinen Exportüberschuss mehr, haben die Statistiker gemeldet. Drama. Womit auch die Wettbewerbsfähigkeit infrage stehe – und überhaupt der Standort. Klagten kurz darauf die einschlägigen Deutschland-stürzt-eigentlich-immer-ab-Notoriker. Kommt halt alles immer zusammen. Könnte man meinen.
Dabei ist das Risiko mittlerweile hoch, dass sich all das Klagen gerade fatal zu verselbständigen droht im Land des ewigen Jammers. Dabei lohnt eben jetzt, wo manches wirklich kritisch ist, ein ernsterer Blick auf wirkliche und unwirkliche Krisen. Und eine sachgerechte Einordnung des vermeintlichen Dramas in der Außenhandelsbilanz. Gut möglich, dass die totale Krise gar keine ganz so diffus-totale ist – nur weil man in angeschlagenem Zustand eben schnell das nächste Übel kommen wähnt. Was, wie im realen Leben, möglichst nüchtern zu diagnostizieren wäre, damit nicht die politischen Antworten vor lauter diffusem Krisengeheul ebenso wirr und wüst ausfallen.
Richtig ist, dass die Deutschen im Mai mehr Geld für Importe ausgegeben haben als für Exporte – fast eine Milliarde Euro. Die Handelsbilanz aus Export und Import ist damit schnöde negativ, zum ersten Mal seit Ewigkeiten. Aber ist damit gleich das deutsche »Wohlstandsmodell in Gefahr«, wie eine Zeitung zur Granularstatistik des Monats Mai 2022 polterte? Und der Deutschen Exportabschwung eingeleitet, wie es aus der bundesweiten Handelskammerlobby verlautete? Und der wirtschaftliche Abstieg des ganzen Landes spätestens jetzt und nun ausgemacht?
Keine Angst vor sinkender Konkurrenzfähigkeit
Nach gängigen Regeln der Ökonomie wäre es ja sogar gut, wenn die Deutschen nicht mehr so viel mehr exportierten als sie importieren. Weil das auf Dauer gar nicht gut ist. Der logische Gegenpart dauerhafter Überschüsse ist, dass andere Länder sich kollektiv gegenüber dem Überschussland verschulden. Das führt auf Dauer nur zu (Schulden-)Krisen, von denen ein Exportland nichts hat – im Gegenteil.
Klar, teurere Importe sind für Unternehmen wie Konsumenten schlecht. Und natürlich führt das rechnerisch auch zu einer schlechteren nominalen Handelsbilanz. Dass die Deutschen neben Inflation, Corona, Energie- und Gaskrise jetzt auch noch eine Exportkrise mitsamt grundlegender Wettbewerbsprobleme haben, ist aber trotzdem Quatsch. Mit höheren Energiekosten haben ohnehin auch die meisten Konkurrenten derzeit zu kämpfen. Da ändert sich per se an der relativen Konkurrenzfähigkeit wenig.
Macht das einen Unterschied? Ja. Wenn es um die richtigen Rezepte geht. In einer Zeit, in der unser Sylt-affiner Bundesfinanzminister die Leute schon auf Entbehrungen einstellt – was ökonomisch wie politisch eher absurd wirkt. Ebenso wie die ansetzende Saga, dass wir wieder mal wegen drohenden Abstiegs den Gürtel enger schnallen müssten. Unsere Probleme liegen ja weder in einem Konsumrausch, noch in irgendwie schwindender Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Rest der Welt, sondern in den drastisch gestiegenen Energiepreisen, die wiederum Russland und anderen Energieexporteuren zugutekommen, den meisten Wettbewerbern Deutschlands aber genauso schaden.
Da wäre Verzicht das schlechteste Rezept. Der Versuch, unsere Handelsbilanz über den Kampf um Marktanteile gegenüber der Konkurrenz zu verbessern, droht dazu zu führen, dass im Zweifel andere Länder mit ähnlichen Energieschockproblemen in entsprechend größere Krisen rutschen. Wovon, wie gesagt, gerade ein Exportland wie Deutschland wenig hat, weil es von guten Absatzmärkten lebt.
Es stimmt: Die Lage ist derzeit ernst. Aber es ist gerade deshalb wichtig, nicht alles wüst zur Krise zu erklären, was keine ist. Sonst droht als Reaktion nur ebenso wüste Aktionsmeierei.
Ja, es gibt Inflation, und es hat eine gewisse Eigendynamik eingesetzt, die gefährlich ist. Nur gilt nichtsdestotrotz, dass Auslöser vor allem Energieschocks und Putin waren – schon vor und vor allem seit dem Überfall auf die Ukraine. Was zugleich heißt, dass die Hartnäckigkeit der Inflation stark auch davon abhängen wird, wie es mit dem Krieg und der Energieversorgung von Putins Gnaden weitergeht – zum Negativen, wie vielleicht auch zum Positiven. Und dass das ebenso für die viel zitierten Lieferengpässe gilt – die wiederum stark auf die Nachwirkungen jener Coronawellen zurückzuführen sind, deren Verlängerung wir gerade auch einem einschlägig bekannten Teil der aktuellen Bundesregierung zu verdanken haben; auch das muss nicht so sein und wird nicht besser, wenn wir jetzt plötzlich auch noch das Ende des Exports beschreien.
Dass in Pandemie wie Energiekrise plötzlich Lieferketten brachen, hat offengelegt, wie naiv die Deutschen über lange Zeit darauf gesetzt haben, ihren Wohlstand wie automatisch durch sichere weltweite Verkäufe und Zulieferungen zu mehren. Da ist tatsächlich ein Modell in Gefahr. Und da braucht es mehr Absicherung und organisierte Versorgungssicherheit. Aber ist das etwas anderes als die ewige Sorge um die deutsche Wettbewerbsfähigkeit. Da hilft plumpes Verzichten und Kostensparen gerade wenig.
Vor lauter Krisen und Gefahren ist es in diesen Tagen nicht ganz einfach, den Überblick zu behalten. Wir müssen uns deshalb nicht gleich noch Krisen zuziehen, die wir gar nicht haben. Besser wir konzentrieren uns auf die, die uns wirklich zu schaffen machen.